Text: Ulrike Scheffer
Abenteuer Sprachwissenschaft
Neue Erkenntnisse über Gebärdensprache, Einsatz für die indigene Bevölkerung in Mexiko oder die Entdeckung einer unerforschten Sprache in der Südsee: DAAD-Alumnae und -Alumni geben Einblicke in ihre Forschungsgebiete.
Sprechen mit den Händen: Die Deutsche Gebärdensprache erforschen
Der Beginn eines neuen Forschungsprojekts ist immer eine aufregende Zeit. Dr. Cornelia Loos steckt gerade in einer solchen Startphase – und versprüht Aufbruchsstimmung. Am Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser (IDGS) der Universität Hamburg wird sie in den kommenden drei Jahren untersuchen, wie in der Deutschen Gebärdensprache komplexe Ereignisse mithilfe von zweihändigen Gebärden ausgedrückt werden können. Im Zentrum steht dabei die Frage, wo die Grenzen einer solchen simultanen Kommunikation liegen. „Wir wollen herausfinden, wie viele Informationen eine Person gleichzeitig über die beiden Hände vermitteln kann und ob die Grenzen motorisch, kognitiv oder vielleicht auch grammatisch oder phonologisch bedingt sind“, sagt Loos, die das Projekt leitet.
Gebärdensprachen sind ein relativ junges Fach in der Linguistik. Der US-amerikanische Linguist William Stokoe belegte 1960 erstmals, dass Gebärdensprachen über eine eigenständige Struktur und Grammatik verfügen und somit vollwertige Sprachen sind. Das legte den Grundstein für die wissenschaftliche Forschung. Seit den 1980er-Jahren hat die Beschäftigung mit Gebärdensprachen auch in Deutschland einen festen Platz in der Linguistik.
Loos selbst kam eher durch Zufall zu ihrem heutigen Fachgebiet. Sie studierte Anglistik, Hispanistik und Psychologie und ging 2006 mit einem DAAD-Studienstipendium nach Montreal. Dort besuchte sie eine Psychologieveranstaltung, die sich mit der Situation von gehörlosen Menschen beschäftigte, und belegte zusätzlich einen Kurs in Amerikanischer Gebärdensprache. „So erfuhr ich, dass es in der Gebärdensprachlinguistik erheblichen Forschungsbedarf gibt, da die Disziplin noch so jung ist“, erinnert sie sich. Später absolvierte sie auch Kurse in Niederländischer Gebärdensprache und lernte natürlich auch die Deutsche Gebärdensprache, kurz DGS genannt.
Gehörlose Menschen haben schon immer durch Gesten kommuniziert. Schon Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die ersten Schulen für gehörlose Kinder eröffnet. Gebärdensprachen, so erklärt Loos, seien aber erst im Zuge der industriellen Revolution entstanden. „In dieser Zeit wuchsen die Städte, die Menschen wohnten dichter beisammen. Damit lebten erstmals auch größere Gruppen gehörloser Menschen an einem Ort, und es entwickelten sich systematische Sprachen.“ Mehr als 200 Gebärdensprachen gibt es heute und es entwickeln sich immer noch neue.
„Inzwischen ist anerkannt, dass die Erforschung von Gebärdensprachen einen wichtigen Beitrag zur Linguistik insgesamt leistet.“
Wie gesprochene Sprachen unterscheiden sich Gebärdensprachen erheblich. „Tiefgreifende Unterhaltungen können Nutzerinnen und Nutzer verschiedener Gebärdensprachen nicht ohne Weiteres miteinander führen“, erklärt Loos. Jede Sprache hat eigene Gebärden, also einen eigenen Wortschatz, und auch im Satzbau und der Grammatik gibt es Unterschiede.
Die Linguistik leistet bislang Grundlagenforschung. Sie untersucht etwa, wie sich Sätze abgrenzen oder Wortarten grammatisch beschreiben lassen. Am Hamburger IDGS wird an einem visuellen Wörterbuch der Deutschen Gebärdensprache gearbeitet. Gebärden werden in kurzen Videosequenzen aufgezeichnet. Maßgebend dafür ist ein sogenanntes Korpus, eine Sammlung von Erlebnis- und Erfahrungsberichten Gehörloser aus ihrem Alltag.
„Inzwischen ist anerkannt, dass die Erforschung von Gebärdensprachen einen wichtigen Beitrag zur Linguistik insgesamt leistet“, sagt Cornelia Loos. Gebärdensprachen hätten sich sogar zu einer Art „Goldstandard“ in der Linguistik entwickelt. „Erst wenn sich ein Sprachphänomen auch in Gebärdensprachen nachweisen lässt, kann es als universal gelten.“ —
Dr. Cornelia Loos, 39, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser (IDGS) der Universität Hamburg. Dort leitet sie ein Forschungsprojekt zum Ausdruck von komplexen Ereignissen in Deutscher Gebärdensprache mittels der simultanen Artikulation beider Hände.
Erfahren Sie mehr über die Forschung von Dr. Cornelia Loos in unserem Film.
Einsatz von KI: Spracherkennungsprogramme in Afrika
Überall auf der Welt nutzen Menschen heute digitale Übersetzungs- und Chatbotprogramme. Selbst ganze Texte kann man sich inzwischen mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) erstellen lassen. Doch nicht für alle Sprachen stehen solche Anwendungen zur Verfügung. Professorin Florence N. Indede arbeitet gemeinsam mit anderen Forschenden daran, drei Sprachen, die überwiegend in ihrer Heimat Kenia gesprochen werden, für KI fit zu machen. Ihr Projekt KenCORPUS zielt darauf ab, eine Datenbasis für Swahili, Dholuo und Luhya zu schaffen, um die digitale Sprachverarbeitung zu ermöglichen. „Unsere Arbeit erhält weltweit Aufmerksamkeit. Das ist ein Beleg dafür, dass nicht nur das Interesse für KI wächst, sondern auch das Interesse an afrikanischen Sprachen“, ist Indede überzeugt. —
Prof. Dr. Florence N. Indede lehrt Kiswahili-Studien an der Maseno University in Kenia und ist Vorsitzende des Fachbereichs für Kiswahili und andere afrikanische Sprachen. Von 2000 bis 2001 forschte sie als DAAD-Stipendiatin für ihre Doktorarbeit an der Universität Bayreuth.
Eine aufsehenerregende Entdeckung: die Kreolsprache Unserdeutsch
Es war ausgesprochenes Forscherglück, das Professor Péter Maitz auf die Spur einer besonderen Sprache führte: das Unserdeutsch. Ein australischer Linguist hatte sie in einem Text erwähnt. Sie ist die einzige Kreolsprache, deren Wortschatz auf Deutsch basiert. Nicht einmal einhundert Menschen sprechen sie noch, die meisten von ihnen leben in Australien. Entstanden ist die Sprache um 1900 in der damaligen Südseekolonie Deutsch-Neuguinea. 2015 brach Maitz zu seiner ersten Feldforschungsreise auf, um Unserdeutsch zu dokumentieren. Die Sprecherinnen und Sprecher hielten Unserdeutsch, das sie selbst „kaputtene Deutsch“ nennen, lange für minderwertig. Inzwischen wächst das Interesse der Nachfahren an der Sprache aber wieder, und damit die Chance, dass Unserdeutsch erhalten bleibt. Maitz selbst will nun mit der Erarbeitung einer Grammatik der Sprache beginnen. —
Prof. Dr. Péter Maitz, 48, erforscht als Soziolinguist Sprachen und ihre Verwendung im sozialen Kontext. Der gebürtige Ungar studierte in seinem Herkunftsland Germanistik und forschte später in Deutschland und der Schweiz. Derzeit hat der DAAD-Alumnus als Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung eine Gastprofessur zum Thema Sprachen und Kolonialismus an der Freien Universität Berlin inne.
Erfahren Sie mehr über das Forscherglück von Professor Péter Maitz und die Sprache Unserdeutsch.
Einfluss auf die Sprache: Wenn Menschen mit Maschinen sprechen
Immer häufiger kommunizieren Menschen mit Sprachassistenten. Anna Greilich untersucht, welchen Einfluss dies auf die Sprache hat. Unterhalten sich Menschen mit Maschinen genauso wie mit anderen Menschen? In einer Experiment-Studie fand Greilich heraus, dass die Kommunikation sich deutlich unterscheidet: „Die Probanden passten sich dem Sprachvermögen der Maschine an. Sie stellten einfache Fragen, der Ton war unpersönlich.“ Von einer kontinuierlichen Unterhaltung kann also kaum die Rede sein. „Für Menschen ist es schwer vorstellbar, einen Dialog mit einem KI-gestützten Sprachassistenzsystem zu führen“, erklärt Greilich. Doch das könnte sich ändern, denn Sprachassistenten werden stetig weiterentwickelt – auch dank der Forschung von Linguistinnen wie Anna Greilich. —
Anna Greilich, 32, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Dort promoviert sie im Bereich Linguistische KI-Forschung und Design von Sprachassistenzsystemen.
„Der neue Dolmetscherstudiengang für indigene Sprachen schließt eine wichtige Lücke, er trägt dazu bei, die Rechte der indigenen Bevölkerung in Mexiko zu stärken.“
Prof. Dr. Martina Schrader-Kniffki hat an einem vom DAAD geförderten Projekt in Zusammenarbeit mit der mexikanischen Universidad Autónoma Benito Juárez de Oaxaca am Aufbau eines speziellen Dolmetscherstudiengangs für indigene Sprachen mitgewirkt.
Erfahren Sie, warum die faszinierende Arbeit von Professorin Martina Schrader-Kniffki auch Benachteiligungen für indigene Völker beseitigt.
In zwei Sprachen zu Hause: Wie marokkanische Migranten kommunizieren
Wenn Kinder mehrsprachig aufwachsen, ist das eine Bereicherung. Für die jungen Menschen, die in zwei Sprachen kommunizieren können und auch für die Gesellschaft. Doch wie beeinflusst Mehrsprachigkeit die Sprache selbst? Die deutsch-marokkanische Linguistin Professorin Naima Tahiri hat untersucht, wie sich der Gebrauch der Berbersprache Tarifit verändert, wenn Tarifit-Sprecherinnen und -Sprecher in Deutschland leben. Sie fand heraus, dass junge Menschen, die Tarifit und Deutsch parallel lernen, Aussprache und Satzbau des Tarifits an das Deutsche anpassen. In Sozialen Medien vermischen sie beide Sprachen. Tarifit benutzen sie meist für Begrüßungsformeln, Koseworte und andere ritualisierte Formen. „Die Sprache dient ihnen als Mittel, um Nähe zu schaffen.“ —
Prof. Dr. Naima Tahiri, 49, wuchs in Deutschland auf, wo sie Germanistik studierte und promovierte. Heute lebt sie in Marokko und lehrt Linguistik und Deutsch als Fremdsprache an der Sidi Mohamed Ben Abdellah University in Fès. Sie war und ist außerdem an verschiedenen vom DAAD geförderten wissenschaftlichen Kooperationsprojekten mit der Universität Paderborn beteiligt.
Erfahren Sie, ob Tarifit auch das Deutsch der Migrantinnen und Migranten beeinflusst.