Protokoll: Klaus Lüber
„Ich empfinde es so, als ob mir die Sprache gestohlen wurde“
Welche Rolle spielt Sprachenpolitik im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine? Ein Dialog zwischen den ukrainischen Germanistinnen, DAAD-Alumnae und Hochschulprofessorinnen Alla Paslawska aus Lwiw und Lilia Besugla aus Charkiw, die derzeit beide an deutschen Universitäten arbeiten.
Lilia Besugla: Wenn wir über die Rolle von Sprache im aktuellen Krieg in der Ukraine nachdenken, dann finde ich es wichtig, zunächst mit einem gefährlichen Narrativ aufzuräumen, das die russische Propaganda schon seit Längerem verbreitet. Es geht um die Behauptung, dass Ukrainisch eigentlich nicht mehr sei als ein Dialekt des Russischen. Aber das ist überhaupt nicht so. Ukrainisch und Russisch unterscheiden sich stark, sowohl im Schriftlichen als auch in der Aussprache. Mindestens so stark wie Französisch und Italienisch. Ukrainisch steht dem Polnischen und Tschechischen viel näher als dem Russischen.
Alla Paslawska: Russland versucht schon immer, die Existenz des Ukrainischen als einer selbstständigen Sprache zu bestreiten. Das ist eine jahrhundertelange Geschichte, die im Russischen Zarenreich mit Verboten der Fibel, der Kirchenbücher, des Gottesdienstes und des Schulunterrichts in ukrainischer Sprache anfing und später in der Sowjetunion durch die Vernichtung zahlreicher ukrainischer Schriftsteller und Künstler begleitet wurde. Die Russifizierung aller Völker der Sowjetunion gehörte zu den wichtigen Aufgaben des Regimes. Ich persönlich musste zum Beispiel 1990 in Lwiw (Westukraine) in russischer Sprache promovieren, weil es anders nicht ging. Die meisten Zeitungen, fast alle Sendungen im Fernsehen und Radio waren auf Russisch. Das war kein natürlicher Prozess, sondern politischer Zwang.
Lilia Besugla: Ja, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Schon 2001, bei der bislang einzigen Volkszählung in der unabhängigen Ukraine, gaben nur 30 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer an, Russisch sei ihre Muttersprache. Ich selbst habe damals Ukrainisch angegeben, obwohl ich, wie Sie, Frau Paslawska, eigentlich fast komplett auf Russisch sozialisiert wurde – vom Kindergarten bis zur Universität. Aber meine Eltern sprachen eben Ukrainisch, ich kannte diese Sprache aus meiner Kindheit. Und deshalb war für mich ganz klar, dass Ukrainisch meine Muttersprache ist, obwohl selbst meine Mutter später immer Russisch mit mir gesprochen hat.
Alla Paslawska: Ich habe das fast genauso erlebt. Russisch wurde hier eindeutig als politisches Machtinstrument genutzt, das den Menschen aufgezwungen wird. Man merkt das schon an der Tatsache, dass in der Ukraine jeder Ukrainisch und Russisch versteht und spricht, in Russland aber kaum jemand Ukrainisch.
„Ukrainisch und Russisch unterscheiden sich stark, sowohl im Schriftlichen als auch in der Aussprache.“
Lilia Besugla: Die Sprache spielt auf jeden Fall eine Schlüsselrolle im aktuellen Krieg. Ein Krieg, den die Propaganda schon lange vor den ersten militärischen Auseinandersetzungen vorbereitete. Ich stamme aus Charkiw in der Ostukraine, dort sickerten schon weit vor den ersten Kampfhandlungen 2014 immer wieder bestimmte Worte und Floskeln in den russischen Sprachgebrauch. Diese wurden gezielt von der russischen Propaganda geschaffen, um die Bevölkerung zu spalten. Nehmen wir den 9. Mai 1945, den Tag des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland. Auf Ukrainisch bedenken wir diesen Tag mit dem Slogan „Nie wieder“ (Ніколи знову!), im Russischen setzte sich die Parole „Wir können es wieder tun“ (Можем повторить!) durch. Eine einfache linguistische Analyse würde zeigen, dass in diesem Zusammenhang im Ukrainischen Floskeln dominieren, die eher auf Frieden und die Verteidigung unseres Landes, im Russischen dagegen eher auf Aggression zielen.
Alla Paslawska: Und deshalb ist es ja auch kein Wunder, dass Gegenbewegungen zum Russischen seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine 2014 und insbesondere nach dem 24. Februar 2022 massiv zugenommen haben. Und das, nachdem Russisch lange einen objektiv höheren Stellenwert hatte als Ukrainisch. 1989 erhielt Russisch per Gesetz den Status als Sprache der „interethnischen Kommunikation“, 2012 als „Regionalsprache“. Erst mit dem Sprachgesetz von 2019 und seiner schrittweisen Implementierung wurden für den in der Verfassung der Ukraine verankerten Status des Ukrainischen als einzige Staatssprache reale Voraussetzungen geschaffen.
Lilia Besugla: Ich finde das genau den richtigen Schritt. Die bisweilen geäußerte Kritik, das würde einem Verbot der russischen Sprache gleichkommen, kann ich nicht nachvollziehen. Das ist für mich Propaganda. Es geht hier um die Förderung von nationaler Identität, von der die Sprache ein großer Teil ist. Und es ist doch klar, dass Ukrainisch dabei eine zentrale Rolle spielt. Der Krieg hat uns das noch einmal ganz deutlich gemacht. Ich kenne viele Menschen, die jetzt im Alltag bewusst Ukrainisch sprechen. Meine Tochter zum Beispiel. Sie spricht mit ihrem Mann Ukrainisch. Und wenn ich sie auf Russisch anspreche, antwortet sie auf Ukrainisch.
Alla Paslawska: Ich kenne auch viele solcher Beispiele. Man kann wirklich sagen, dass uns der Krieg noch einmal einen Schub gegeben hat, was das Verständnis für die eigene Sprache und Identität angeht. Ich würde trotzdem die Rolle der Sprache beim Ausbruch des Krieges nicht überbewerten wollen. Es ist jetzt wichtig, keine sprachpolitischen Fehler zu machen. Wir sind eben im Krieg, der alles und alle grausam macht. Die Sprache an sich kann nicht schuld sein, dass sie von Politikern instrumentalisiert wird. Aber wir sind eben im Krieg. Und Wunden, die unserem Land täglich durch Russland und auf Russisch zugefügt werden, sind tief, kosten viele menschliche Leben und brauchen Zeit, um zu heilen. Viele russischsprachige Ukrainer gehen zielgerichtet in ihrem Alltag zum Ukrainischen über. Der russisch schreibende ukrainische Schriftsteller Andrij Kurkow sagte kürzlich in einem Interview, dass er nicht auf Russisch schreiben kann, solange der Krieg Russlands gegen die Ukraine andauert.
Lilia Besugla: Für mich ist Russisch gerade tatsächlich die Sprache des Feindes, wie das der ukrainische Schriftsteller Alexander Kabanow schon 2017 formulierte. Ich empfinde das tatsächlich gerade so, als ob mir die Sprache gestohlen wurde.
Alla Paslawska: Das ist aus Ihrer Sicht natürlich verständlich. Sie sind ja selbst Dichterin und haben Ihr ganzes Leben lang auf Russisch geschrieben.
Lilia Besugla: Das stimmt. Und jetzt kann ich nicht mehr auf Russisch schreiben und bin auf Ukrainisch noch nicht gut genug.
Alla Paslawska: Bei Ihrer Übersetzung der Dichterin Mascha Kaléko ins Ukrainische, die Sie neulich auf einem Symposium in Hannover präsentiert haben, ist Ihnen das aber schon sehr gut gelungen.
Lilia Besugla: Danke, liebe Frau Paslawska. Für mich ist es wirklich eine persönliche Tragödie, dass ich nicht mehr Russisch schreiben kann und im Ukrainischen noch nicht so gut bin, wie ich es gerne wäre. Und wie ich es heute vielleicht wäre, wenn die Sprache in meiner Kindheit und Jugend einen höheren Stellenwert gehabt hätte. Deshalb wollte ich auf diese Weise trainieren.
Haben Sie eigentlich auch beim letzten Radiodiktat am 9. November teilgenommen? Das findet jetzt schon seit über 20 Jahren zum Tag des ukrainischen Schrifttums und der Sprache statt, ist inzwischen aber zu einem echten Event geworden. Ich selbst habe es leider verpasst.
Alla Paslawska: Ja, ich habe teilgenommen, aber, wie ich gestehen muss, eine Menge Fehler gemacht. Später habe ich allerdings erfahren, dass in diesem Jahr überhaupt niemand ohne Fehler geblieben ist. Im Sinne der ukrainischen Sprachpflege bleibt also noch einiges zu tun.
Prof. Dr. Lilia Besugla lehrt Deutsche Philologie und Übersetzung in Charkiw und ist DAAD-Alumna. Nach Beginn der russischen Luftangriffe auf die ostukrainische Stadt floh sie nach Deutschland. Seit April 2022 arbeitet sie als Gastwissenschaftlerin am Institut für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache und Interkulturelle Studien der Universität Jena.
Prof. Dr. Alla Paslawska leitet an der Nationalen Iwan-Franko-Universität Lwiw den Lehrstuhl für Interkulturelle Kommunikation und Translationswissenschaft. Die DAAD-Alumna ist zudem Präsidentin des Ukrainischen Deutschlehrer- und Germanistenverbandes. Aktuell unterrichtet sie als Gastprofessorin im Department Germanistik und Komparatistik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.