Interview: Gunda Achterhold
„Sprache ist mein Leben“
Sie zählt zu den wichtigsten Stimmen zeitgenössischer belarusischer Literatur: Die Gedichte der in Minsk geborenen Lyrikerin, Autorin, Übersetzerin und promovierten Linguistin Volha Hapeyeva wurden in mehr als 15 Sprachen übertragen. Seit 2020 lebt sie im Exil, aktuell als Fellow des Berliner Künstlerprogramms des DAAD in Berlin.
Nach Ihrem Jahr als Stadtschreiberin in Graz warnten Freunde Sie davor, nach Belarus zurückzukehren. Seitdem lebten Sie an verschiedenen Orten, unter anderem in München und Krems. Welchen Einfluss haben diese vielen Umzüge auf Ihre Arbeit und auch auf Ihren Umgang mit Sprache?
Hapeyeva: Fast alle meine Gedichte entstehen aus echten Geschichten. Ich schreibe über das, was mit mir passiert, was ich fühle, wo ich wohne. Diese andere Art von Leben, ohne festen Ort, ist auch ein Leitmotiv in meinen Texten geworden. Es ist sehr anstrengend, aber es hat mich gelehrt, nicht so an Orten und Dingen festzuhalten, freier zu sein. Das ist etwas sehr Buddhistisches (lacht). Ich zahle dafür einen hohen Preis, denn ich habe keine Sicherheit, weiß nie, wie es weitergehen wird. Das ist eine extreme Erfahrung. Aber sie lehrt mich, vieles anders zu sehen, eine andere Perspektive zu gewinnen. Deshalb arbeite ich jetzt so viel mit den Begriffen Nomadismus, Heimat und Sprache.
Sie bezeichnen sich selbst als „Nomadin“. Was meinen Sie damit?
Hapeyeva: Worte wie Exil, Flüchtling oder Migrantin sind nur in einem staatlichen Zusammenhang relevant, ich mag diese Begriffe nicht. „Nomadin“ klingt für mich eher nach einer freiwilligen Reise – auch wenn das natürlich ein problematisches Konzept ist, wenn man nicht den richtigen Pass hat. Ich habe angefangen, jeden Ort, an dem ich bin – das kann ein Hotelzimmer oder ein Gästezimmer bei einem Freund sein – mein Zuhause zu nennen. Diese vielen Jahre des Reisens haben mich daran gewöhnt.
Kann Sprache eine Heimat sein?
Hapeyeva: Wie sehr Sprache ein Teil unserer Identität ist, habe ich erst kürzlich erlebt. Im letzten halben Jahr hatte ich vor allem Deutsch und Englisch gesprochen, Belarusisch nur mit wenigen Menschen am Telefon. Und dann war meine Mama zu Besuch und ich habe mit ihr im Alltagsleben meine Sprache gesprochen. Danach fühlte ich mich wieder geerdet! Es war, als sei ich vorher wie in einem Vakuum gewesen. Bis 2019 war mein Leben auf Belarusisch und Russisch. Als ich diese Verbindung jetzt nicht mehr hatte, war es, als ob mein früheres Leben überhaupt nicht existiert hätte.
Und doch beschreiben Sie in Ihrem Essay „Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils“ nicht die Sprache, sondern die Poesie als Ihr eigentliches Zuhause.
Hapeyeva: Sprache ist auch eine Heimat. Aber eine Heimat, die einem genommen werden kann, wenn man zum Beispiel mit niemandem mehr in der eigenen Sprache sprechen kann. Deshalb empfinde ich die Poesie als mein eigentliches Zuhause. Sie ist immer in dir. Und sie steht für Menschlichkeit und Empathie, diese für die menschliche Existenz so wichtigen Fähigkeiten. Außerdem ist sie vielfältig! Poesie kann so viel Spaß machen – als Soundpoesie im Spiel mit Lauten und Wortfragmenten zum Beispiel. Aber sie kann auch ein Protestmittel sein, in schwierigen Zeiten. Überlebensmittel für Menschen, die in tragischen Momenten ihres Lebens Unterstützung brauchen. Wenn die Sprache, die eben auch voller Hass und Aggression sein kann, in das Reich der Poesie eintritt, dann passiert etwas mit ihr. Für mich ist es Magie, in einem guten Sinne.
Sprache ist nicht nur Ihr poetisches Handwerkszeug. Als Übersetzerin und promovierte Linguistin beschäftigen Sie sich auf vielen verschiedenen Ebenen mit Sprache. Im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine haben Sie schon früh Briefe von Gefangenen, Verträge und Dokumente übersetzt. Wie spielt das alles zusammen?
Hapeyeva: Sprache ist mein Leben. Als Linguistin ist man immer in der Sprache, denkt über die Wörter nach und betrachtet sie als Phänomen. Das ist schön, aber es kann auch zwanghaft werden. Und wenn man dann auch noch mindestens vier Sprachen im Alltagsleben benutzt, braucht man manchmal etwas Ruhe vor dieser Sprache. Deshalb male ich seit ein paar Jahren. Das hilft mir, den Kopf frei zu machen und auch noch andere Ausdrucksmittel für mich zu finden.
Wie ist denn diese Leidenschaft an der Sprache geweckt worden?
Hapeyeva: Ich bin Jahrgang 1982 und habe meine Kindheit in der Sowjetunion verbracht. Es gab einen Mangel an allem, wir waren alle sehr arm, und Kinder hatten wenig Spielzeug. Wörter waren unser Kapital, und deshalb spielten wir viele Spiele, die mit Sprache zu tun hatten. „Telefon kaputt“ zum Beispiel, das machte am meisten Spaß. Man flüstert seinem Nachbarn etwas ins Ohr, der flüstert es weiter und am Ende kommt etwas ganz Verdrehtes dabei heraus. Auch mit meiner Mutter habe ich viel mit Wörtern gespielt, wenn wir Bus fuhren zum Beispiel. Dann sagte ich: „Mama, sag mir ein Wort, und ich mache dir ein Gedicht“, oder wir bildeten Kettenwörter. Meine Sommerferien verbrachte ich meistens mit meinen Großeltern und Tanten auf dem Land, ich beschreibe das in meinem Roman „Camel Travel“. Sie waren alle Lehrer, unterrichteten Belarusisch, Russisch, Französisch und Deutsch. Es waren keine Kinder in meinem Alter dort und so habe ich die ganzen drei Monate mit Büchern in verschiedenen Sprachen verbracht. Und in der Natur. Bücher und die Natur waren dort meine Freundinnen.
Wie arbeiten Sie, in welchen Situationen entsteht Kreativität?
Hapeyeva: Auf verschiedene Weise, mir kommen zum Beispiel im Zug immer viele Gedanken. Diese Bewegung ist für mich sehr wichtig. Nicht immer entsteht dabei ein Gedicht, aber dann vielleicht eine Idee für ein Gedicht. Einmal sah ich einige Vögel auf der Spitze eines Baumes, und mir fiel die erste Zeile eines Gedichtes ein, das ich schreiben wollte. Oft entstehen meine Gedichte aus einem Impuls von außen. Andere sind wie Forschungsprojekte. Für ein Gedicht wie „trink, kindchen, trink“, in dem es um eine poetische Verarbeitung jahrhundertealter Abtreibungstechniken geht, recherchiere und lese ich sehr viel. Ich kann drei, vier, fünf Bücher lesen, um eine Zeile zu schreiben… (lacht). Deshalb bin ich eine schlechte Prosaschriftstellerin.
Schreiben Sie Ihre Texte noch auf Belarusisch?
Hapeyeva: Belarusisch war immer meine Lyriksprache, nie Russisch, obwohl man im Alltag in Belarus sehr oft die russische Sprache benutzt. Als Stadtschreiberin in Graz fing ich 2019 an, einiges auf Deutsch zu schreiben, Gedichte und kleine essayistische Texte gehen ganz gut. Im Moment fange ich gerade an, an einem neuen Roman zu arbeiten und versuche, einige Passagen direkt auf Deutsch zu schreiben. Letztens fragte ich Matthias Göritz, der meine Texte ins Deutsche überträgt, wie man ein bestimmtes Wort am besten ausdrückt. Er sagte nur: „Volha, wenn du Prosa schreiben willst, musst du in Absätzen denken, nicht in Wörtern!“ Aber ich bin Poetin, Dichterin, ich denke in Wörtern. Deshalb schreibe ich Romane sehr, sehr langsam. —
Filmporträt über Volha Hapeyeva
Für ihr Werk erhielt Dr. Volha Hapeyeva zahlreiche Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Rotahorn-Literaturpreis (2021) und den Wortmeldungen-Literaturpreis (2022). Auf Deutsch erschienen die beiden Gedichtbände „Trapezherz“ (2023) und „Mutantengarten“ (2020), der Roman „Camel Travel“ (2021) und der Essay „Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils“ (2022).
Berliner Künstlerprogramm
Das Berliner Künstlerprogramm des DAAD ist eines der angesehensten Residenzprogramme für internationale Kunst- und Kulturschaffende aus den Bereichen Bildende Künste, Film, Literatur sowie Musik & Klang. Es zeichnet jährlich rund 20 herausragende Fellows mit Residenzaufenthalten in Berlin aus. Die Einladung ermöglicht es den Gästen, sich ohne Produktionsdruck ihrem künstlerischen Denken, Handeln und Forschen zu widmen. Begegnungen mit anderen Kunst- und Kulturschaffenden vermitteln transdisziplinäre Impulse und stoßen wechselseitige Lernprozesse an.