Infolge von Globalisierung, verstärkter internationaler Vernetzung und Migration erfahren heute auch Gesellschaften, die sich lange Zeit als sprachlich eher homogen verstanden haben, eine mehrsprachige Dynamik. Während meine Generation Englisch zum Beispiel vor allem als Fremdsprache aus der Schule kannte, gucken heute viele Jugendliche in Deutschland amerikanische Serien im Original, folgen englischsprachigen Influencer:innen auf YouTube und verfassen englische Beiträge auf TikTok. In ihren Messenger-Nachrichten mischen sie Deutsch nicht nur mit Englisch, sondern auch mit Sprachen, die sie als Herkunftssprachen ihrer Eltern oder Großeltern oder durch Freund:innen kennen.
In mehrsprachigen städtischen Wohngebieten ist durch diese sprachliche Vielfalt zum Beispiel Kiezdeutsch entstanden, ein urbaner Dialekt des Deutschen, der im Bereich des Wortschatzes durch Neuzugänge wie türkisch „lan“ („Typ“), arabisch „habibi“ („Schatz“), russisch „brat“ („Bruder“) oder englisch „nice“ („schön“) bereichert wird und auf grammatischer Ebene laufende Entwicklungen des Deutschen ausbaut und weitertreibt. Und auch auf urbanen Märkten finden wir eine bunte Sprachmischung. Auf dem Maybachufer-Markt in Berlin beobachteten wir beispielsweise, wie Händler:innen kontinuierlich ihr sprachliches Repertoire erweitern und diese Ressourcen in der Interaktion mit Käufer:innen nutzen, ohne sich dabei von Sprachgrenzen einschränken zu lassen. In diesem Kontext können sich mehrsprachige grammatische Muster entwickeln, eine „Marktgrammatik“, die für bestimmte Wendungen ein grammatisches Gerüst zur Verfügung stellt, in das dann je nach Bedarf Wörter beliebiger Sprachen eingefügt werden können.
Diese sprachliche Vielfalt wird oft als etwas ganz Neues und Herausforderndes für unsere Gesellschaft verstanden. Mehrsprachigkeit ist jedoch nichts Ungewöhnliches, sondern vielmehr der Normalfall. Menschliche Gemeinschaften waren schon immer durch Sprachvariation und Kontakt geprägt. Das zeigt sich besonders (aber nicht nur) in Städten, denn Städte waren schon immer ein Kristallisationspunkt für soziale und sprachliche Vielfalt.
Mittelalterliche Städte in Deutschland brachten nicht nur unterschiedliche regionale Dialekte zusammen, sondern auch eine bunte Sprachenvielfalt von Hoch- und Plattdeutsch über Latein als Sprache der Bildung und der Religion in christlichen Gemeinschaften, Hebräisch und Aramäisch als Schriftsprachen und Jiddisch als Umgangssprache in jüdischen Gemeinschaften, über Sprachen wie Romanes, Sorbisch oder Dänisch, die noch heute als Minderheitensprachen in Deutschland gesprochen werden, bis zu den vielen weiteren Sprachen, die durch ausländische Geschäftsbeziehungen von Kaufleuten, durch Studenten und Zuwanderung aus anderen Ländern hinzukamen. Entsprechend war auch Sprachmischung schon immer Teil des Sprachgebrauchs. Unter Gebildeten im 16. Jahrhundert gehörte beispielsweise die Kombination von Deutsch und Latein, wie sie etwa in den Tischreden Martin Luthers deutlich wird, zum guten Ton. Die Briefe, die Liselotte von der Pfalz im 17. und 18. Jahrhundert schrieb, wurden nicht zuletzt wegen ihrer virtuosen Mischung aus Französisch und Deutsch berühmt, und der preußische Staatsmann und Reformer Freiherr vom Stein integrierte diese beiden Sprachen zum Beispiel in Briefen an seine Frau.
Mehrsprachigkeit und mehrsprachige Praktiken sind also nichts Neues, sondern waren auch früher schon normal. Ungewöhnlich ist eher Einsprachigkeit. Studien aus Psycholinguistik und Neurowissenschaften haben eine Reihe kognitiver Vorteile von Mehrsprachigkeit aufgedeckt, in Bezug auf Reflexionsfähigkeit, Aufmerksamkeitssteuerung, kognitive Flexibilität, Arbeitsgedächtnis, Kreativität und das spätere Einsetzen geistigen Abbaus im Alter. So gesehen ist also eher Einsprachigkeit das Problem: eine sprachliche Verarmung, die kognitive Nachteile mit sich bringen kann.