Zum Nachdenken

Perspektivenwechsel

Professorin Aleida Assmann über die Frage, wie der Blick auf die Kolonialgeschichte die westliche Erinnerungskultur verändert.

Ausgabe 1 | 2022

Am 4. Mai 2021 fand in Mexiko ein doppelter Gedenktag statt. An diesem Tag bat der mexikanische Präsident López Obrador das Volk der Maya offiziell um Entschuldigung für die Verbrechen, die seit der Eroberung ihres Landes durch die Spanier an ihnen verübt wurden. Er erinnerte im 500. Jahr der spanischen Invasion an das Leid der Ureinwohnerinnen und -einwohner, das ihnen während der drei Jahrhunderte der kolonialen Herrschaft Spaniens, aber auch während der zwei Jahrhunderte seit der Unabhängigkeit Mexikos angetan worden ist. Koloniale und postkoloniale Demütigung und Gewalt addierten sich zu einer 500-jährigen Unterdrückungsgeschichte. Der Präsident betonte dabei, dass diese Geschichte in Form von Rassismus und Diskriminierung immer noch Gegenwart ist.

Nicht nur in Mexiko gibt es gute Gründe, sich an diese 500 Jahre zu erinnern. Um 1520 entstanden von Europa aus mit Entdeckungen und Eroberungen ganz neue, weltumspannende Macht- und Handlungsräume. Durch den Aufbau eines Dreieckshandels mit Rohstoffen und Versklavten zwischen Europa, den Amerikas und Afrika gelangten europäische Bürgerinnen und Bürger, Städte und Nationen zu unermesslichem Reichtum und globaler Dominanz.

Diese Geschichte ist lange her, aber in Spuren und Relikten noch mit Händen zu greifen und auch im deutschen Stadtbild verankert. In der Mitte Berlins zum Beispiel wurde das Schloss wiederaufgebaut, mit integriertem Humboldt Forum, das eigentlich ein Symbol für Weltoffenheit werden und die Botschaft „die Welt zu Gast bei Freunden“ transportieren sollte. Seine Kuppel ziert jedoch eine goldene Inschrift auf blauem Grund, die damit schwer zu vereinbaren ist: „Es ist kein ander Heil, es ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn der Name Jesu, zu Ehren des Vaters, daß im Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“ Dieser vollmundige, aber in dieser Form auch völlig unverständliche Aufruf geht auf König Friedrich Wilhelm IV. zurück. Heute ist er nicht nur peinlich, sondern auch ein Skandal und steht als offener Affront für Nichtchristen im Raum.

„Wir haben gerade die Chance, etwas über unsere Geschichte dazuzulernen, indem wir mit den Augen derer auf sie blicken, die nicht hier geboren sind, aber deren Vorfahren unter ihr gelitten haben.“

Deshalb war es an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, diesem Motto des Gebäudes in seiner Einweihungsrede der Ethnologischen Sammlung im September 2021 etwas entgegenzusetzen. Er verwies auf den tiefgreifenden demografischen Wandel, der mit Globalisierung und Migration verbunden ist: „Menschen aus allen Teilen der Welt leben heute in Deutschland, sind vielfach Deutsche geworden. Sie gehören zu dem, was heute ‚deutsch‘ bedeutet. Sie sind nicht Menschen mit Migrationshintergrund – wir sind ein Land mit Migrationshintergrund!“ Vor diesem Hintergrund sprach er von einer historischen Zäsur und einer großen Aufgabe. Das Humboldt Forum sei „kein Ort der Selbstvergewisserung, sondern der Selbstbefragung. (…) Es ist kein Schlussstein, sondern erst der Anfang einer globalen Veränderung, denn die Welt­kulturen sind angekommen, aber das gleich in einem doppelten Sinne: hier drinnen im Humboldt Forum und da draußen, vor den ­monumentalen Fassaden.“

Wir Deutschen befinden uns gerade an einer neuen Schwelle unseres Geschichtsbewusstseins und unserer Erinnerungskultur. Das bedeutet: Wir haben gerade die Chance, etwas über unsere Geschichte dazuzulernen, indem wir mit den Augen derer auf sie blicken, die nicht hier geboren sind, aber deren Vorfahren unter ihr gelitten haben.

Apropos Perspektivenwechsel. Im Sommer 2021 ist von Mexiko aus eine siebenköpfige Crew losgesegelt. 500 Jahre nach Christoph Kolumbus nahm ihr Schiff „La Montaña“ Kurs auf Europa. In 50 Tagen und Nächten hat diese Gruppe indigener Aktivistinnen und Aktivisten der „zapatistischen“ Autonomiebewegung den Atlantik überquert. Ihre Botschaft lautet „Aufwachen“ und richtet sich gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg. Sie kämpfen für eine andere Perspektive auf die 500-jährige Geschichte und erinnern die Europäerinnen und Europäer daran, dass Mexiko nie entdeckt und auch nicht erobert worden ist. Ihre umgekehrte Invasion nennen sie „Reise für das Leben“. Ihr Motto passt auch gut für den DAAD, denn sie machen sich mit Europäerinnen und Europäern zusammen auf die Suche nach dem, „was Menschen zu Gleichen macht“. —

PROF. DR. ALEIDA ASSMANN ist Anglistin, Ägyptologin und Kulturwissenschaftlerin. Sie beschäftigt sich in ihrer wissenschaftlichen Arbeit intensiv mit der Thematik des kulturellen Gedächtnisses, mit Erinnerung und Vergessen. Als Gastprofessorin hat Aleida Assmann diese Forschung auch weltweit vorgestellt, unter anderem während einer vom DAAD geförderten Kurzzeitdozentur in Japan 1998.