Im Dialog

„DEFA-Filme ermöglichen einen neuen Blick“

Die DEFA Film Library an der University of Massachusetts Amherst ist das einzige Forschungszentrum und Archiv für ostdeutschen Film außerhalb Deutschlands. Ein Dialog zwischen Institutsleiterin Dr. Mariana Ivanova und Ko-Leiterin Dr. Victoria Rizo Lenshyn über die Bedeutung der DDR-Filme in den USA.

Ausgabe 1 | 2024

Victoria Rizo Lenshyn: Was hat dich eigentlich an die DEFA Film Library geführt, Mariana?

Mariana Ivanova: Wahrscheinlich, wie bei dir, meine Faszination für DDR-Kino. Die begann, unerwarteterweise, während meines Graduiertenstudiums in den USA. Damals entdeckte ich, dass die DEFA (Deutsche Film-Aktiengesellschaft) mit etlichen Studios und Produzentinnen und Produzenten in Ost und West kooperiert hatte. Um die Forschungslücke zu füllen, habe ich mich in meinem ersten Buch mit der Rolle der DEFA im europäischen Filmkontext beschäftigt. Grundlage dafür waren etwa 55 Gemeinschaftsprojekte und der trotz staatlicher Verbote rege Film­austausch zwischen Ost- und Westdeutschland, der allerdings nie auf staatlicher Ebene ­stattfand. Und wie bist du zur DEFA-Forschung gekommen?

Rizo Lenshyn: Im Bachelorstudium für Deutsch und Geschichte habe ich gemerkt, wie unterrepräsentiert ostdeutsche Kultur im Curriculum war. Während meines Masterstudiums an der University of Massachusetts ­Amherst erhielt ich die Möglichkeit, eng mit der DEFA Film Library zusammenzuarbeiten. Dort konnte ich dann ein Sommer-Filminstitut über Gender und Sexualität in DDR-Filmen mitorganisieren. Währenddessen habe ich über weibliche Filmstars in der DDR promoviert. Beim Filminstitut haben wir Klassiker wie Heiner Carows „Coming Out“ (1989) diskutiert, aber auch weniger bekannte Filme wie Helmut Kißlings „Die andere Liebe“ (1988) und die Fernsehverfilmung „Guten Morgen, du Schöne“ (1979). Sowohl das Institut als auch meine Dissertationsforschung in Berlin wurden vom DAAD gefördert.

Ivanova: Ja, ich kann mich auch noch gut daran erinnern, als ich 2007 als Graduierte am Sommer-Filminstitut teilnahm, das ebenfalls vom DAAD mit gefördert wurde. Es ging um Beziehungen zwischen der DEFA und dem südame­rikanischen Film und ich war beeindruckt von der Vielfalt der Genres, Stile und der visuellen Experimente. Die unterschiedlichen Filme, die wir uns damals ansahen und diskutierten, haben sowohl mein Forschungsvorhaben als auch mein Verständnis des DEFA-Filmerbes enorm geprägt.

„Die unterschied­lichen Filme, die wir uns damals ansahen und diskutierten, haben sowohl mein Forschungsvorhaben als auch mein Verständnis des DEFA-Filmerbes enorm geprägt.“

Dr. Mariana Ivanova

Rizo Lenshyn: Bei diesem Sommer-Filminstitut 2007 haben wir uns auch kennengelernt! Welche DEFA-Filme haben dich seither interessiert?

Ivanova: Ich habe damals Rainer Simons Filme für mich entdeckt, zum Beispiel „Die Besteigung des Chimborazo“ (1989), eine DEFA-Koproduktion mit der Bundesrepublik unter der Beteiligung von Filmschaffenden aus Ecuador, deren Zusammenarbeit mit einer Quechua-Gemeinde mich faszinierte. Filme, die Begegnungen über Grenzen und staatspolitische Diskurse hinweg und die Suche nach einer gemeinsamen Sprache thematisieren, sind heute noch aktuell. Entdeckenswert sind auch die DEFA-Alltags­filme, die sich mutig mit sozialen und künstle­rischen Fragen auseinandersetzen – etwa ­Klassiker wie Heiner Carows „Die Legende von Paul und Paula“ (1972), Konrad Wolfs „Solo ­Sunny“ (1979) oder Herrmann Zschoches „Insel der Schwäne“ (1982). Welche DEFA-Filme ­würdest du denn immer wieder sehen und ­unterrichten?

Rizo Lenshyn: Filme, die Diskussionspunkte für Vergleiche und Kontraste bieten, bei denen sich die Zuschauenden mit den in den Filmen dargestellten sozialen Themen identifizieren oder sich über eine neue Perspektive oder ein neues Konzept wundern können. Es gibt auch viele Dokumentarfilme, die ich mir gerne ansehe, wie die von Gerd Kroske zum Beispiel. Meine Studierenden und ich finden den Raum faszinierend, den seine Filme sowohl seinen Protagonisten als auch den Zuschauenden zum Nachdenken geben. Ich unterrichte auch oft Helke Misselwitz’ „Winter Adé“ (1989), in dem die Regisseurin bei einer Zugreise durch die DDR mit Frauen über ihren Alltag im „real existierenden Sozialismus“ spricht.

Ivanova: Ja, das macht für mich auch die Anziehungskraft der DEFA-Filme bis heute aus: Wie DDR-Filme uns in einer globalisierten und nach wie vor stark von neoliberalen Werten geprägten Welt direkt ansprechen und Beispiele für Meinungsfreiheit, Solidarität und politischen Aktivismus aufzeigen. Was denkst du, Victoria, was macht die DEFA-Filme so attraktiv für ein internationales ­Publikum?

„Ich finde es gut, dass wir diesen Preis für die Konzeption eines DEFA-bezogenen Filmprogramms eingeführt haben, der es Forschenden, Lehrenden sowie Kuratorinnen und Kuratoren in den USA und international ermöglicht, über DEFA-Filme weiter zu lehren und zu forschen.“

Dr. Victoria Rizo Lenshyn

Rizo Lenshyn: Vor Kurzem nahm ich beim 2024 Massachusetts Multicultural Film Festival an einer Veranstaltung teil, die du kuratiert hast. Da wurden DEFA-Animationsfilme aus den 1970er-Jahren des chilenischen Künstlers Juan Forch gezeigt, der in der DDR im Exil lebte. Im Publikum saßen Chileninnen und Chilenen, die heute in den USA ebenfalls im Exil leben und die mit Teilnehmenden ins Gespräch kamen, die selbst politische Flüchtlinge sind oder waren. Zusammen haben sie über die Darstellung verschiedener Erfahrungen mit Autoritarismus und Exil im Film diskutiert. Meine Studierenden ­fühlen sich von DEFA-Produktionen aber auch angesprochen, weil sie einen neuen Blick auf Themen wie Frausein, Jugendkulturen, Generationenkonflikte, Sexualität, Aktivismus, Nachkriegserinnerungen, Rassifizierung, also die Prozesse, durch die eine Gruppe von Menschen durch ihre Hautfarbe oder Ethnizität de­finiert wird, Rassismus und Umweltschutz ermöglichen.

Ivanova: Ja, solche regen Diskussionen unter und mit Studierenden erlebe ich auch immer in meinen Filmseminaren! Da du über Themen wie Aktivismus und Umweltschutz gesprochen hast – ich freue mich auch schon auf unser 12. Sommer-Filminstitut „Screened Environments: Intersections of Built, Natural and Social Spaces in East Germany“ im Juni 2025. Es wird um die filmische Darstellung von Räumen in der Stadt, in der Natur und auch in industriellen Gebieten gehen, und wir diskutieren, wie DEFA-Filme Fragen der Umwelt- und sozialen Gerechtigkeit in Momenten der Krise oder des Stillstands aufbringen.

Rizo Lenshyn: Ja, das ist ein spannendes und aktuelles Thema. Ich freue mich auch auf die Filmvorführungen im Herbst, darunter unsere Filmreihe mit Gastkünstlerin Sibylle Schönemann. Sehr interessant wird bestimmt auch eine Filmreihe von Katrin Bahr, die durch unseren Programming Award gefördert wird. Da wird es die Gelegenheit geben, über drängende globale Konflikte der Gegenwart zu diskutieren. Ich finde es gut, dass wir diesen Preis für die Konzep­tion eines DEFA-bezogenen Filmprogramms eingeführt haben, der es Forschenden, Lehrenden sowie Kuratorinnen und Kuratoren in den USA und international ermöglicht, über DEFA-Filme weiter zu lehren und zu forschen. ―

Dr. Mariana Ivanova ist Associate Professor für deutschen Film und Medien an der University of Massachusetts Amherst und akademische Leiterin der dort ansässigen DEFA-Filmbibliothek. Sie wurde zweimal vom DAAD gefördert: 1998 an der Philipps-Universität Marburg und 2004 bis 2005 an der Universität Augsburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das deutsche und (ost)europäische Kino des 20. und 21. Jahrhunderts, wissenschaftliche und mediale Diskurse im Kino und Theorien des transnationalen Films, von Koproduktionen und Erinnerungskultur.

Dr. Victoria Rizo Lenshyn ist DAAD-Alumna und stellvertretende Direktorin der DEFA-Filmbibliothek. Ihre Forschungsschwerpunkte sind sozialistische Starkultur, Gender Studies, Filmwissenschaft und deutsches Kino des 20. Jahrhunderts. Ihre aktuelle Forschung untersucht kulturelle Reaktionen auf die Umweltkrise in der DDR in den 1970er- und 1980er-Jahren.

Die DEFA Film Library besteht seit 1993 und ist ein kombiniertes Archiv-, Produktions-, Verleih- und Forschungszentrum, das sich einem breiten Spektrum des Filmschaffens aus und in Zusammenhang mit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) widmet. Sie zeichnet sich durch die enge Zusammenarbeit mit vielen nationalen und internationalen Partnerinstitutionen aus, zu denen unter anderem die DEFA-Stiftung in Berlin und Goethe-Institute weltweit gehören.