Zum Nachdenken

Die Zukunft des Films

Die sieben Leben der siebten Kunst: Film und Kino zwischen postpandemischer Gegenwart und digitaler Zukunft. Ein Essay von Filmwissenschaftler Professor Vinzenz Hediger.

Ausgabe 1 | 2024

Eine „Erfindung ohne Zukunft“ war das Kino schon nach der Einschätzung seines Erfinders, des Lyoner Industriellen Auguste Lumière, der gemeinsam mit seinem Bruder ­Louis im Dezember 1895 im Grand Café in Paris die erste öffentliche Filmvorführung durchführte. In den bald 130 Jahren seither wurde dem Kino immer wieder sein bevorstehender Tod vorausgesagt, oder ein bereits eingetretener attestiert. Das Kino, dem der italienische Kritiker Ricciotto Canudo Ende der 1910er-Jahre den Namen der „siebten Kunst“ gab, scheint die Schrödinger’sche Katze unter den Künsten zu sein: immer zugleich lebendig und vom Schatten des Ablebens verfolgt.

Erst war es das kostenlose Unterhaltungsmedium Radio, das bei seinem Aufkommen in den 1920er-Jahren dem Kino den Garaus zu machen drohte, dann das Fernsehen, und später dann Heimvideo in allen Formaten von VHS bis Blu-Ray. Zwar ging die Zuschauerbesuchsfrequenz Mitte des 20. Jahrhunderts stark zurück und stabilisierte sich in den 1970er-Jahren bei etwa einem Viertel des Besuchsaufkommens der 1940er-Jahre. Gleichwohl setzte sich das Kino als Erstaufführungsort für Filme in allen Krisenmomenten immer wieder durch. Und nicht nur das: Das Kino wurde in den 1980er- und 1990er-Jahren zum Ausgangspunkt einer immer länger werdenden, alle Grenzen von Zeit und Raum tendenziell überschreitenden Verwertungskette. Brachte die Kinoauswertung Ende der 1970er-Jahre noch 90 Prozent des durchschnittlichen Einspielergebnisses ein, so kamen zwanzig Jahre später 75 Prozent der Einnahmen aus Zweit- und Drittauswertungen wie TV, Kabelfernsehen und Heimvideo, ohne dass der Kinomarkt deswegen geschrumpft wäre.

Hollywood ist ohnehin die ertragreichste Kulturindustrie der Welt. Seit den 1910er-Jahren übersetzt die US-Filmindustrie die Größenvorteile ihres Heimmarktes durch die Kontrolle eines weltweiten Verleihnetzes in eine anhaltende globale Dominanz: Weil der Heimmarkt USA mit einem Absatz von 1,7 Milliarden Kinotickets im Jahr so groß ist, kann Hollywood mit Budgets arbeiten, die ein Vielfaches über dem anderer Länder liegen. Wer also beispielsweise in Europa ein Kinoticket für einen Hollywoodfilm kauft, bekommt für den Kartenpreis einen Film zu sehen, der in unübersehbarer Weise ein Vielfaches der Produktionsmittel eines europäischen Films gekostet hat. Das Hinzukommen der Zweit- und Drittauswertungen hat diesen „komparativen Vorteil“, wie es mit einem alten Begriff des britischen Ökonomen David Ricardo heißt, noch verschärft: Spätestens seit den 1990er-Jahren nimmt Hollywood mit einem Film durchschnittlich vier Mal so viel ein wie noch Ende der 1960er.

Den letzten und möglicherweise endgültigen der vielen Tode des Kinos schien allerdings die Pandemie besiegelt zu haben. Streaming-Dienste wie Netflix und Amazon brachten Filme in die geschützten Räume von Eigenheim und Wohnung. Das Kino schien ausgedient zu haben. Es blieb nur noch der Film, verfügbar auf allen digitalen Plattformen, zu fast jeder Zeit und an jedem Ort mit zuverlässigem Internetanschluss. Immerhin zeigte sich dabei, dass der Film als solcher aufs Kino nicht zwingend angewiesen ist: Skalierbar über eine Vielzahl von Formaten und Plattformen, ist der Film ein „immutable mobile“ im Sinne des französischen Wissenschaftssoziologen Bruno Latour, eines jener Medienformate, die – wie etwa auch die Landkarte – ihre innere Struktur und zugleich ihren Nutzwert behalten, auch wenn Trägermedium und Maßstab sich verändern.

Mit einer Mischung aus Nostalgie, Risikoscheue und Produktionspotenz zog sich zumindest das amerikanische Kino auch diesmal aus der Affäre. Hollywood lebt seit den 1990er-Jahren zusehends von Fortsetzungen und Ausweitungen erzählerischer Universen wie der „Star Wars“-Saga und den Marvel-Comics-Filmen. Solche Fortsetzungen und Erweiterungen bekannter Filme sind weniger risikobehaftet als die Entwicklung völlig neuer Formate und Inhalte.

„Das Kino scheint die Schrödinger’sche Katze unter den Künsten zu sein: Immer zugleich lebendig und vom Schatten des Ablebens verfolgt.“

Das Kino als Aufführungsort erweckte zu neuem Leben nach der Pandemie denn auch „Top Gun: Maverick“, die Fortsetzung von „Top Gun“, eines Films mit Tom Cruise als Kampfpiloten aus dem Jahr 1986. „Top Gun: ­Maverick“ spielte bei einem Budget von rund 177 Millionen US-Dollar im Kino 1,4 Milliarden US-Dollar ein. Die Wertschöpfungskette, an deren Anfang die aufwendige Kinopremiere steht, hat so auch die Pandemie überlebt.

Allerdings ist Hollywood längst nicht mehr das Maß aller Dinge im Kino. Vielmehr mehren sich die Anzeichen, dass eine „neue Weltordnung der Kulturproduktion“ im Entstehen ist, wie es die pakistanische Autorin Fatima Bhutto formuliert. Das größte Filmland der Welt ist ohnehin Indien mit einer Jahresproduktion von rund 1.800 Filmen in Hindi und unterschiedlichen ­Regionalsprachen, insbesondere Bangla und den dravidischen Sprachen Tamil, Telugu und Mala­yalam. Ebenfalls nicht mehr von der Weltkarte des Kinos zu verdrängen ist Südkorea. Hohes Bildungs- und tiefes Lohnniveau sowie eine Technologieindustrie an der Weltspitze versetzen das Land mit seinen 51 Millionen Einwohnern in die Lage, Blockbuster-Filme mit Spezialeffekten herzustellen, die Hollywood leicht Paroli bieten und an der heimischen Kinokasse erfolgreicher sind als die meisten amerikanischen Filme.

Wer heute eine Vorstellung von der Weltkarte des Kinos bekommen möchte, sollte sich ein Flugticket einer Golf-Airline wie beispielsweise Emirates oder Qatar Airways kaufen. In einem Flugradius von etwa acht Stunden rund um den Golf leben zwei Drittel der Menschheit, und nur in zwei Ländern in diesem Radius ist Englisch die Hauptsprache. Auf einem Emirates-Flug hat man in der Regel die Wahl zwischen mehr als 400 Filmen. Europa kommt dabei nur noch am Rande vor. Besonders prominent hingegen sind auf der Liste unter anderem nigerianische Filme, die auch auf Netflix in immer größerer Zahl zu finden sind.

Nigeria hat sich nach dem Schock eines radikalen, vom Internationalen Währungsfonds verordneten Sparkurses Anfang der 1990er in den vergangenen drei Jahrzehnten zum wichtigsten Kulturproduzenten Afrikas gewandelt und erreicht mit Filmen, Fernsehserien und Popmusik weltweit ein großes Publikum. Zu Beginn der 1990er-Jahre wurden alle nigerianischen Filme auf Video und ausschließlich für den Heimkonsum produziert. Heute kommen sie zuerst wieder ins Kino, mit Galapremieren in Lagos und Erstaufführungen in den Multiplexkinos in den großen Städten wie Abuja, Enugu, Kaduna oder Kano.

Nicht nur seine wichtige ökonomische Funktion als Ausgangsort der Wertschöpfungskette eines Films erhält das Kino also am Leben: Auch seine Rolle als gesellschaftlicher Ort und als zentraler Bestandteil dessen, was in demokratischen Gesellschaften weiterhin Öffentlichkeit heißt, leisten dazu ihren Beitrag. Die digitale Zukunft des Films ist, wie das Unterhaltungsmenü der Golf-Airlines zeigt, ohnehin gesichert. Sie wird aber weiterhin auch den Namen „Kino“ tragen. ―

Vinzenz Hediger ist Professor für Filmwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt, wo er das DFG-Graduiertenkolleg „Konfigurationen des Films“ und das BMBF-Projekt „Cultural Entrepreneurship and Digital Transformation in Africa and Asia“ leitet. In Frankfurt hat er mithilfe des DAAD den Studiengang IMACS – International Master in Cinema Studies aufgebaut; zudem leitet er das seit 2018 laufende DAAD-Projekt der Transnationalen Bildung Archival Studies Master in Jos, Nigeria.