Eine „Erfindung ohne Zukunft“ war das Kino schon nach der Einschätzung seines Erfinders, des Lyoner Industriellen Auguste Lumière, der gemeinsam mit seinem Bruder Louis im Dezember 1895 im Grand Café in Paris die erste öffentliche Filmvorführung durchführte. In den bald 130 Jahren seither wurde dem Kino immer wieder sein bevorstehender Tod vorausgesagt, oder ein bereits eingetretener attestiert. Das Kino, dem der italienische Kritiker Ricciotto Canudo Ende der 1910er-Jahre den Namen der „siebten Kunst“ gab, scheint die Schrödinger’sche Katze unter den Künsten zu sein: immer zugleich lebendig und vom Schatten des Ablebens verfolgt.
Erst war es das kostenlose Unterhaltungsmedium Radio, das bei seinem Aufkommen in den 1920er-Jahren dem Kino den Garaus zu machen drohte, dann das Fernsehen, und später dann Heimvideo in allen Formaten von VHS bis Blu-Ray. Zwar ging die Zuschauerbesuchsfrequenz Mitte des 20. Jahrhunderts stark zurück und stabilisierte sich in den 1970er-Jahren bei etwa einem Viertel des Besuchsaufkommens der 1940er-Jahre. Gleichwohl setzte sich das Kino als Erstaufführungsort für Filme in allen Krisenmomenten immer wieder durch. Und nicht nur das: Das Kino wurde in den 1980er- und 1990er-Jahren zum Ausgangspunkt einer immer länger werdenden, alle Grenzen von Zeit und Raum tendenziell überschreitenden Verwertungskette. Brachte die Kinoauswertung Ende der 1970er-Jahre noch 90 Prozent des durchschnittlichen Einspielergebnisses ein, so kamen zwanzig Jahre später 75 Prozent der Einnahmen aus Zweit- und Drittauswertungen wie TV, Kabelfernsehen und Heimvideo, ohne dass der Kinomarkt deswegen geschrumpft wäre.
Hollywood ist ohnehin die ertragreichste Kulturindustrie der Welt. Seit den 1910er-Jahren übersetzt die US-Filmindustrie die Größenvorteile ihres Heimmarktes durch die Kontrolle eines weltweiten Verleihnetzes in eine anhaltende globale Dominanz: Weil der Heimmarkt USA mit einem Absatz von 1,7 Milliarden Kinotickets im Jahr so groß ist, kann Hollywood mit Budgets arbeiten, die ein Vielfaches über dem anderer Länder liegen. Wer also beispielsweise in Europa ein Kinoticket für einen Hollywoodfilm kauft, bekommt für den Kartenpreis einen Film zu sehen, der in unübersehbarer Weise ein Vielfaches der Produktionsmittel eines europäischen Films gekostet hat. Das Hinzukommen der Zweit- und Drittauswertungen hat diesen „komparativen Vorteil“, wie es mit einem alten Begriff des britischen Ökonomen David Ricardo heißt, noch verschärft: Spätestens seit den 1990er-Jahren nimmt Hollywood mit einem Film durchschnittlich vier Mal so viel ein wie noch Ende der 1960er.
Den letzten und möglicherweise endgültigen der vielen Tode des Kinos schien allerdings die Pandemie besiegelt zu haben. Streaming-Dienste wie Netflix und Amazon brachten Filme in die geschützten Räume von Eigenheim und Wohnung. Das Kino schien ausgedient zu haben. Es blieb nur noch der Film, verfügbar auf allen digitalen Plattformen, zu fast jeder Zeit und an jedem Ort mit zuverlässigem Internetanschluss. Immerhin zeigte sich dabei, dass der Film als solcher aufs Kino nicht zwingend angewiesen ist: Skalierbar über eine Vielzahl von Formaten und Plattformen, ist der Film ein „immutable mobile“ im Sinne des französischen Wissenschaftssoziologen Bruno Latour, eines jener Medienformate, die – wie etwa auch die Landkarte – ihre innere Struktur und zugleich ihren Nutzwert behalten, auch wenn Trägermedium und Maßstab sich verändern.
Mit einer Mischung aus Nostalgie, Risikoscheue und Produktionspotenz zog sich zumindest das amerikanische Kino auch diesmal aus der Affäre. Hollywood lebt seit den 1990er-Jahren zusehends von Fortsetzungen und Ausweitungen erzählerischer Universen wie der „Star Wars“-Saga und den Marvel-Comics-Filmen. Solche Fortsetzungen und Erweiterungen bekannter Filme sind weniger risikobehaftet als die Entwicklung völlig neuer Formate und Inhalte.