Text: Christina Iglhaut
Ein silberner Bär für ein sprechendes Nilpferd
Protagonist im Film „Pepe“ des dominikanischen Regisseurs Nelson Carlos de los Santos Arias ist ein Flusspferd mit abenteuerlicher Geschichte. Der Filmemacher und Fellow des Berliner Künstlerprogramms des DAAD über Identität, Inspiration und Anderssein.
Eine dumpfe, tiefe Stimme, die behauptet, von einem Nilpferd zu stammen, dröhnt durch den Kinosaal im Berlinale Palast in Berlin. Eine Stimme, die das Konzept Zeit nicht versteht. Eine Stimme, die wie in Trance von einem historischen Ereignis erzählt und nur eines mit Sicherheit weiß – dass sein Besitzer tot ist. Der Film „Pepe“ des dominikanischen Regisseurs Nelson Carlos de los Santos Arias erzählt von dem ersten und bisher einzigen wilden Nilpferd, das in Südamerika getötet wurde. Das Nilpferd, von der kolumbianischen Presse „Pepe“ getauft, war eines von dreien, die Pablo Escobar 1981 aus dem südlichen Afrika nach Kolumbien bringen ließ. Der berüchtigte Drogenboss hielt die Nilpferde auf seinem Anwesen Hacienda Nápoles, bis er 1993 von US-amerikanischen und kolumbianischen Spezialkräften erschossen wurde. Bei der Durchsuchung seines Grundstücks wurden die Tiere im Wasser übersehen und konnten sich ungestört vermehren. Heute leben über 100 dieser sogenannten „Kokain-Nilpferde“ im Flusssystem des Rio Magdalena.
Herr de los Santos: Was hat Sie an Pepes Geschichte fasziniert?
Nelson Carlos de los Santos Arias: „Für mich war es ein so interessantes Thema, weil es die erste Herde wilder Nilpferde außerhalb des afrikanischen Kontinents war. Pepe wurde von der Herde vertrieben und wanderte im Rio Magdalena 500 Kilometer flussabwärts, wo er die Menschen in Angst und Schrecken versetzte – bis er schließlich getötet wurde, ohne zu wissen, wo er war und wo er hingehörte. Die Geschichte hat mich dazu gebracht, viel über die historische Migration zwischen dem afrikanischen und dem amerikanischen Kontinent nachzudenken.“
Welche Botschaften wollen Sie mit dem Film vermitteln?
de los Santos Arias: „Ich bin aus der Karibik. Wir sind afro- und europäischstämmig, also eine Mischung aus vielen Herkünften und Kulturen. Motive von Identität, Zugehörigkeit, Kolonialismus und Migration ziehen sich durch meine ganze Filmografie. Dieses Mal hatte ich die Chance, die Themen durch Pepes Geist zu erzählen. Es ist meine erste Fabel. Wir leiden heute häufig unter einem Mangel an Vorstellungskraft, an gegenseitigem Verständnis und auch daran, dass wir Dinge nicht aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Das wollte ich aufgreifen.“
Mit seinem Film gewann Nelson Carlos de los Santos Arias den Silbernen Bären für die beste Regie der diesjährigen Berlinale. Die Internationalen Filmfestspiele Berlin sind einer der renommiertesten internationalen Wettbewerbe. Die Auszeichnung ist ein Meilenstein für den Regisseur, der 2019 Fellow des Berliner Künstlerprogramms des DAAD war. Während der Zeit in Berlin konnte de los Santos Arias bereits Recherchen für seinen Experimentalfilm betreiben.
Wie haben Sie die Zeit in Berlin erlebt?
de los Santos Arias: „Mich haben immer schon Länder fasziniert, die kulturell ganz anders sind als meine Heimat. Deshalb wollte ich auch nicht nach Spanien oder Portugal, sondern nach Schottland oder Deutschland, um dort mein ,Anderssein‘ zu erkunden. Und das Jahr mit dem Berliner Künstlerprogramm war wirklich eines der besten Jahre meines Lebens – ich wünschte, ich könnte es noch einmal erleben (lacht). Die experimentelle elektronische Musikszene in Berlin hat mich inspiriert. Menschen von überall auf der Welt kommen nach Berlin und prägen die Stadt musikalisch. Jeder, der ,Pepe‘ sieht, wird diesen Einfluss bemerken und verstehen, wie wichtig mir der Sound in meinen Werken ist. Berlin gab mir die Energie und das Selbstvertrauen, mein Sounddesign auf ein ganz neues Level zu heben. ,Pepe‘ ist voll mit sehr psychedelischer Musik, die ich selbst gemacht habe.“
Neue Themen zu erkunden und formell Neues zu wagen, ist de los Santos Arias’ Element – seit seinem Studium 2008 und 2009 am schottischen Edinburgh College of Art gilt seine Leidenschaft dem Experimentalfilm. Und damit hat er viel Erfolg: Lange Zeit galt die Dominikanische Republik als weißer Fleck auf der globalen Filmlandkarte. Mit de los Santos Arias ändert sich das. Schon für seinen ersten Kurzfilm „She Said He Walks“, in dem Gefühle im Fokus stehen, wurde er mit dem renommierten British Academy Film Award (BAFTA) ausgezeichnet. In seinem breit gefächerten künstlerischen Schaffen hat der Regisseur sich aber auch immer wieder mit seinem Heimatland auseinandergesetzt.
„Ich wollte Musiker werden, dann Schriftsteller, dann Fotograf. Aber als ich das Universum Kino entdeckt hatte, war es um mich geschehen.“
Sie haben schon viele internationale Erfolge feiern können – wie sind Sie zum Film gekommen?
de los Santos Arias: „Ich hatte Asthma als Kind. Ich konnte nicht draußen spielen, war recht isoliert. Also habe ich als Kind angefangen, Filme zu schauen – und zwar nicht nur Kinderfilme. Mein Vater zeigte mir viele Filme und später hatte ein Bekannter einen Filmclub. Er gab mir VHS-Kassetten mit Filmen von Carlos Saura oder ,Sie küssten und sie schlugen ihn‘ von François Truffaut. Ich hatte auch eine Phase, in der wollte ich Musiker werden, dann Schriftsteller, dann Fotograf. Aber als ich das Universum Kino entdeckt hatte, war es um mich geschehen.“ —
Nelson Carlos de los Santos Arias wurde 1985 in Santo Domingo geboren. Nach seinem Studium in kreativem Schreiben und Medienkunst an der Universidad Iberoamericana zog er 2006 nach Buenos Aires, um Film zu studieren. Anschließend ging er nach Schottland und wandte sich von 2008 bis 2009 am Edinburgh College of Art dem Experimentalfilm zu. Im Jahr 2009 erhielt sein erster Kurzfilm „She Said He Walks“ einen Award der British Academy of Film. Seine künstlerische Ausbildung setzte er mit einem Master of Fine Arts in Film/Video am California Institute of the Arts in Los Angeles fort und schloss sie 2014 ab. Im Jahr 2019 war er Fellow des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Das Programm ermöglicht internationalen Kulturschaffenden, sich während eines Residenzaufenthalts in Berlin ohne Produktionsdruck ihrem künstlerischen Denken, Handeln und Forschen zu widmen.