Interview: Esther Sambale
„Ich wünsche mir Filme, die ein Risiko eingehen“
Wie der kamerunische Regisseur und einstige Fellow des Berliner Künstlerprogramms des DAAD Jean-Pierre Bekolo mit seinen Filmen alternative Versionen der afrikanischen Zukunft entwirft.
Herr Bekolo, Sie kamen 1966 in der kamerunischen Hauptstadt Yaoundé zur Welt. Was ist Ihre erste Erinnerung an das Kino oder an einen Film?
Als ich vielleicht sechs Jahre alt war, besuchte ich mit der Schule ein Kino in Yaoundé. Ich erinnere mich vor allem an die große Leinwand. Es wurde einer dieser Sandalenfilme gezeigt. Ich glaube, es lief „Moses“. Später kam ich durch meinen Vater in Berührung mit französischen Krimis der 1970er Jahre und amerikanischen Klassikern. Er war Polizeichef und auch für die Erstellung von Ein- und Ausreisevisa zuständig. Manchmal brachten ihm Leute Filme aus dem Ausland mit. Später ging ich viel mit Freunden ins Kino.
Welche Filme sahen Sie sich zusammen an?
Damals schauten wir oft Italowestern und chinesische Filme. „The Big Boss“ mit Bruce Lee habe ich bestimmt 30-mal gesehen. Als chinesische Karatefilme im Westen in den späten 1980ern populär wurden, kannten wir sie längst.
Seit mehr als drei Jahrzehnten widmen Sie sich nun der Neuerfindung des afrikanischen Kinos. Welche Stereotype wollen Sie durch Ihre filmische Arbeit auflösen?
Mir geht es nicht darum, Stereotype zu dekonstruieren. Ich ignoriere sie. Postkoloniale Denkansätze verharren in der Vergangenheit, ich versuche sie in meinen Filmen zu vergessen. Für mich ist Kolonialismus ein schwerer Unfall, der passiert ist. Ein Trauma, nach dem ich nicht mein Leben ausrichten will. Ich will afrikanische Geschichte in Bewegung bringen.
Auf welche Weise?
Indem ich afrofuturistische Filme schaffe, in denen ich Zukunft so imaginiere, als hätte es die koloniale Begegnung mit dem Westen für uns nie gegeben.
„Ich imaginiere die afrikanische Zukunft so, als hätte es die koloniale Begegnung mit dem Westen für uns nie gegeben.“
Ihr Film „Those Who Bleed“ gilt als erster Science-Fiction-Film aus einem afrikanischen Land. Wie können afrofuturistische Visionen afrikanische Wirklichkeit verändern?
„Was wäre, wenn?“ ist die Frage, die ich mir am Anfang eines Films stelle. Sie öffnet Türen zu dem, was nicht ist. Diese Denkweise kann auch die Realität verändern. Aktuell ist Afrika in der Vergangenheit und Gegenwart gefangen. Sich eine alternative Zukunft vorzustellen, macht es möglich, sich aus diesem Gefängnis zu befreien.
Immer wieder kritisieren Sie die politische Elite in afrikanischen Ländern, die den Neokolonialismus aufrechterhalte. Etwa 2013 in Ihrem fiktiven Dokumentarfilm „Le Président“, der auf den Langzeit-Präsidenten Paul Biya anspielt und in Kamerun zensiert ist. Welche politische Wirkmacht hat Kino?
Ich bin vom derzeitigen Kino sehr enttäuscht, denn es ist sehr bourgeois und behäbig. Im Augenblick sehe ich keine Kinofilme über den Krieg in der Ukraine oder die Situation in Israel und Gaza. Dabei könnte Kino Alternativen zu politischen Realitäten aufzeigen und das Publikum zum Nachdenken anregen. Ich wünsche mir Filme, die ein Risiko eingehen und ein Kino, das die Probleme unserer Zeit aktiv begleitet. Ich bewundere Journalisten, die sich in die Geschichte hineindenken, während sie passiert.
Mit „Le Président“ haben Sie genau das gemacht?
Durch die fiktive Geschichte eines Präsidenten, der am Vorabend der Neuwahlen verschwindet, wollte ich dem kamerunischen Publikum einen gedanklichen Möglichkeitsraum eröffnen. Dabei braucht es eigentlich nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, dass ein 91 Jahre alter Mann, der seit 42 Jahren an der Macht ist, eines Tages sterben wird. Trotzdem schien der Gedanke den Menschen Angst zu machen.
Nicht nur in Filmen, auch im akademischen Kontext befassen Sie sich mit Wandel und Zukunft, etwa in Ihrem aktuellen Buch „Cinema as a Transformative Tool for the Therapeutic Intellectual“. Welchen Beitrag kann Kino zur Dekolonialisierung leisten?
Wenn es Kino gelingt, neue Welten zu schaffen und die schmerzhafte Vergangenheit in Kunst zu verwandeln, kann es heilend wirken. Um individuelles und kollektives Trauma zu überwinden, ist die Neuerfindung des afrikanischen Kinos essenziell. Das sehe ich als Aufgabe des „Therapeutischen Intellektuellen“. Aber auch die westliche Filmindustrie und Filmschaffenden tragen Verantwortung, etwa wenn sie Filme über afrikanischen Themen machen. Die Leben und Geschichten anderer als Filmmaterial zu nutzen, ohne ihre Sichtweisen zu integrieren, ist eine Art von Ausbeutung. Was westliche Filmschaffende nicht machen sollten, wenn sie in afrikanischen Ländern sind, habe ich in meinem Buch „Cinema as a Transformative Tool“ aufgeschrieben.
2018 schrieben Sie einen offenen Brief mit dem Titel „Don’t Talk about Us“ an die Verantwortlichen der Berlinale. Was war Ihre Kritik?
Im Auftrag der Berlinale produzierte ich unter anderem die TV-Serie „Our Wishes“, die von der ersten Begegnung zwischen Deutschen und Afrikanern handelt, die zum Kolonialismus führte. Mein Beitrag wurde nicht ins Festivalprogramm aufgenommen. Für mich zeigte sich dadurch eine Haltung, die aussagt: „Erzählt uns von euch, aber redet dabei nicht über uns“. Und das, obwohl wir wissen, dass der Kolonialismus nicht überwunden ist. Ich träume von einer Welt, in der wir über diese Dinge nicht mehr sprechen müssen.
Als Autor und Universitätsdozent geben Sie auch Impulse zur Selbstermächtigung, etwa durch Werkzeuge wie Ihrem Filmalphabet. Worum geht es dabei?
Filmstudierende in vielen Ländern Afrikas scheinen eingeschüchtert, wenn es darum geht, Drehbücher auf Englisch oder Französisch zu schreiben. Mein Alphabet ist ein Kartenspiel, in dem ich filmische Elemente in Symbolen aufgeschlüsselt habe. So kann jeder Geschichten in seiner eigenen Sprache entwickeln.
Einen Teil des Alphabets zeigten Sie 2016 als Fellow des Berliner Künstlerprogramms des DAAD in Ihrer Ausstellung „Welcome to Applied Fiction“. Wie hat die Zeit in Berlin Ihre Arbeit beeinflusst?
Berlin prägte meine Arbeit positiv. Dort finalisierte ich auch endlich die Postproduktion eines Films, der schon seit Jahren auf meinem Rechner lag.
Welcher Film war das?
Der Sci-Fi-Film „Naked Reality“. Im Hintergrund sind Berliner Bäume zu sehen, die ich während der Zeit in Berlin noch nachträglich gefilmt und hinzugefügt habe. Auch die Entscheidung, ihn in Schwarz-Weiß zu zeigen, fiel dort. Vermutlich half mir der „Berlin Spirit“, ihn fertigzustellen. Auch für den folgenden Film war Berlin wichtig. Ich drehte dort in einem Lagerhaus vor Greenscreen. Mit einem Mietauto und Pariser Schauspielerinnen und Schauspielern. Es geht um Liliane Bettencourt, die einst reichste Frau der Welt, und um ihren – fiktionalen – kamerunischen Chauffeur. Der Film wird mein nächster Beitrag für die Filmfestspiele in Cannes sein.
Jean-Pierre Bekolo wurde 1966 in Yaoundé geboren und zählt zu Kameruns bekanntesten Filmemachern. Er studierte Physik an der Universität von Yaoundé, absolvierte eine Schnittausbildung am Institut national de lʼaudiovisuel in Paris und studierte anschließend Semiotik beim renommierten Filmwissenschaftler Christian Metz. Sein Debütfilm „Quartier Mozart“ (1992) wurde bei den Filmfestspielen von Cannes, und bei Festivals in Locarno und Montreal ausgezeichnet. 2023 erschien sein Buch „Cinema as a Transformative Tool for the Therapeutic Intellectual. Putting Postcolonial Theories in Motion” im Berliner Verlag Missread. Sein aktueller Film „We Black People“ setzt sich als fiktiver Dokumentarfilm mit der Geschichte der afroamerikanischen Bevölkerung Kolumbiens und ihrem Widerstand gegen Sklaverei und Kolonialisierung auseinander.