Text: Ulrike Scheffer Illustrationen: CasieGraphics
Kino der Moderne: Queer Cinema
Die britischen Forschenden Leila Mukhida und Hongwei Bao beschäftigen sich mit queerer Filmkultur in Deutschland und China.
In der Filmgeschichte hat Deutschland einen festen Platz. Expressionistische Stummfilme aus der Zeit zwischen den Weltkriegen wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ von Robert Wiene oder „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ von Friedrich Wilhelm Murnau wirkten weltweit stilprägend. In den 1970er- und 1980er-Jahren wurden Autorenfilme wie „Die Blechtrommel“ von Volker Schlöndorff oder „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders Welterfolge. Auch für das Queer Cinema gingen wichtige Impulse von Deutschland aus. Die britischen Forschenden Dr. Leila Mukhida und Dr. Hongwei Bao, die beide mit einem Stipendium des DAAD in Deutschland gefördert wurden, zählen vor allem Rainer Werner Fassbinder zu den Pionieren der Gattung in Deutschland. „Fast zwei Jahrzehnte bevor Queer Cinema als Genre von der Wissenschaft ausgerufen wurde, hat Fassbinder in den 1970er-Jahren bereits queere Filme gedreht. Er hat die Grenzen dessen, was man sagen durfte, verschoben“, erklärt Leila Mukhida. Mukhida lehrt Modern German Studies an der University of Cambridge und ist Vize-Direktorin des DAAD Cambridge Forschungs-Hubs für German Studies. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehört die visuelle Kultur in Deutschland und Österreich, insbesondere das deutsche Kino und das deutsche Queer Cinema.
Seinen Durchbruch feierte das Queer Cinema in den 1990er-Jahren in den USA. Im Mittelpunkt der Filme standen Menschen mit nicht binären Geschlechteridentitäten und sexuellen Orientierungen, die ihren Weg jenseits bürgerlicher Normen suchten und gegen Diskriminierung ankämpfen mussten. Das Genre beeinflusste auch das Mainstreamkino. So zeigt der 2005 veröffentlichte Neo-Western „Brokeback Mountain“ von Ang Lee die Beziehung zweier Cowboys. In neueren Filmen werde Queerness auch genutzt, um Intersektionalität – die Überschneidung unterschiedlicher Formen von Diskriminierung – sichtbar zu machen, erklärt Leila Mukhida. Konkret: Viele queere Menschen sehen sich Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt, etwa wenn sie homosexuell sind und eine dunkle Hautfarbe haben.
Der erste queere Film, mit dem sich Leila Mukhida wissenschaftlich beschäftigte, zeigt beispielsweise die Alltagsschwierigkeiten eines lesbischen afro-deutschen Paares: „Alles wird gut“ (1998) lautet der Titel des Films von Angelina Maccarone. „Besonders spannend fand ich, dass Gesellschaftskritik hier über eine Komödie transportiert wird“, sagt Mukhida. Gleichzeitig spiegelten zeitgenössische queere Filme wie „Alles wird gut“ den Zusammenhang von Queer-Theorie und anderen Denkrichtungen wie dem Postkolonialismus wider. Queer-Theorie dekonstruiere dabei geschlechtliche und sexuelle Identitäten und die damit verbundenen Machtstrukturen.
In Nordamerika und Europa hat sich Queer Cinema einen festen Platz in der Independent-Filmszene erobert. Auch queere Filmfestivals haben sich in vielen westlichen Ländern erfolgreich etabliert. Doch nicht überall auf der Welt ist es selbstverständlich, queere Filme zu produzieren und sie öffentlich zu zeigen. Davon berichtet Hongwei Bao, der sich mit Queer Cinema in China beschäftigt. Queere Aktivistinnen und Aktivisten sowie Organisationen könnten in China nur im Verborgenen agieren, erklärt er. Queer Cinema habe daher die Rolle eines Widerstandsmediums. „Film war und ist eine wichtige Ausdrucksform der LGBTQ-Bewegung.“ Dokumentarfilme über queeres Leben in China und kurze Clips würden in China über Soziale Medien, private Streaming-Plattformen oder als DVDs verbreitet. Vorführungen fänden meist in Privatwohnungen statt, sagt Hongwei Bao. „Aber auch viele Filme und digitale Videos, die nicht explizit queer sind und auf allgemeinen Streaming-Websites gezeigt werden, nehmen queere Perspektiven ein.“ Dabei arbeiteten die Filmschaffenden meist mit Subtexten. „Es werden zum Beispiel zwei Männer oder Frauen gezeigt, die eine Beziehung haben, ohne dass dies direkt angesprochen wird.“ Hongwei Bao lehrt Media Studies an der University of Nottingham und forscht dort unter anderem zu visueller und darstellender Kultur lesbischer, schwuler, bisexueller, transgender und queerer Künstler und Künstlerinnen (LGBTQ) im heutigen China.
Das Klima in China sei schon einmal deutlich liberaler gewesen, sagt Hongwei Bao. Bereits 1993 habe der Film „Lebewohl, meine Konkubine“ von Chen Kaige mehrere internationale Filmpreise gewonnen. Einer der Hauptprotagonisten des Films, gespielt von Leslie Cheung, ist ein homosexueller Darsteller an der Pekingoper. „2001, wenige Jahre nachdem Homosexualität in China entkriminalisiert worden war, fand in Peking dann das erste queere Filmfestival statt“, erzählt Hongwei Bao. Rund zehn Jahre lang hätten sich LGBTQ-Aktivistinnen und -Aktivisten relativ frei organisieren und kulturell entfalten können. Nach der Machtübernahme Xi Jinpings sei ihr Aktivismus jedoch zum Politikum geworden. LGBTQ-Organisationen und -Institutionen wurden verboten, queere Kunst zensiert. Inzwischen lebten viele queere chinesische Filmschaffende im Exil. Der bekannteste, Fan Popo, wohnt seit 2017 in Berlin. Seine Arbeiten, aber auch queere Filme wie „Lan Yu“ von Stanley Kwan, die in China produziert werden, finden auf internationalen Filmfestivals große Beachtung. Wie auch die deutschen Beiträge zum Queer Cinema schreiben sie die Geschichte des Films mit. ―
Dr. Leila Mukhida forscht zu visueller Kultur in Deutschland und Österreich und beschäftigt sich vor allem mit deutschem Kino und Queer Cinema.
Die visuelle und Performance-Kultur von LGBTQ-Künstlerinnen und -Künstlern in China ist das Forschungsfeld von Dr. Hongwei Bao.