Im Dialog

Kollektives Wissen für die Gletscherforschung

Wenn Forschungsteams in den Bergen Schwedens oder im Himalaja Gletscher vermessen, ist Teamarbeit gefragt, auch mit den Menschen vor Ort. Ein Dialog zwischen dem indischen Gletscherexperten Dr. Shaktiman Singh von der University of Aberdeen und seiner ehemaligen deutschen Praktikantin Martha Schuchardt.

Ausgabe 2 | 2022

Shaktiman Singh: Martha, erinnerst du dich an 2019, als wir in Schweden im Team für eine Feldforschung zur Forschungsstation Abisko nahe am Polarkreis gefahren sind? Wir haben Gletscher kartiert und du warst meine erste, richtig gute Praktikantin. Unser Team hatte einen wunderbaren Austausch.

Martha Schuchardt: Und wie ich mich erinnere! Ich war so froh, gleich zu Beginn meines Studiums über ein DAAD-Stipendium die Chance zu bekommen, in die Arbeit einer internationalen Forschungsgruppe einzutauchen. Das war der Anfang von viel mehr für mich: Du hast als Zweitgutachter schließlich meine Bachelorarbeit zur Analyse von Langzeitwetterdaten betreut. Außerdem wusste ich nach den drei Monaten genau, wohin ich in der Wissenschaft will: Fernerkundung an der Schnittstelle zu Polar- und Gletscherforschung.

Shaktiman Singh: Das freut mich sehr. Du hattest damals bereits viel Wissen mitgebracht. Ich schätze sehr, mit wie vielen Fähigkeiten gerade meine Studierenden aus Deutschland kommen, zum Beispiel mit einem wichtigen technologischen Wissen aus Studium und Alltag.

Martha Schuchardt: Ich möchte behaupten, du hast mein Wissen aus mir herausgearbeitet – durch deine fachliche und menschliche Offenheit, deine respektvolle Kommunikation und deine Wertschätzung mir gegenüber. Erst im Austausch habe ich erkannt, dass ich tatsächlich fachlich schon etwas kann. Ein Geografie-Studium ist in Deutschland sehr interdisziplinär, und man weiß anfangs nicht so recht, ob man jetzt alles oder nichts kann. Das Praktikum bei dir in Schweden hat mir auf vielen Ebenen Selbst­vertrauen gegeben.

„In meiner Karriere habe ich eines gelernt: Der Austausch von Menschen ist Austausch von Wissen.“

Shaktiman Singh: In meiner Karriere habe ich eines gelernt: Der Austausch von Menschen ist Austausch von Wissen. Und in einem heterogenen internationalen Team führt das zu beeindruckenden kreativen Ideen. In der Gletscherforschung ist kollektives Wissen von enormer Bedeutung, weil sich die Gletscherschmelze durch den Klimawandel so beschleunigt und das wiederum Auswirkungen auf Millionen Menschen hat und haben wird, besonders in Indien. Also müssen wir in der Wissenschaft auch immer wieder schneller und besser werden. Aktuell forsche ich zur Möglichkeit von künstlichen Gletschern im Himalaja. Für innovative Lösungen holen wir auch lokales traditionelles Wissen ins Boot. Aber um dieses nutzen zu können, muss man achtsam auf die Menschen zugehen, ihre Kultur kennenlernen und erfahren, dass Gletscher dort Teil des kulturellen Erbes sind und in ihrer Bedeutung erkannt werden. Über Vertrauen öffnen sich Menschen und teilen ihr Wissen – zum Beispiel über den sehr wahrscheinlichen Weg eines Erdrutsches.

Martha Schuchardt: Diese bedachte Haltung im kulturellen Austausch mag ich. Ich weiß noch: Als damals in Schweden der König an die Universität kam, hast du auch mich vorgestellt. Was für ein Erlebnis! Du bedenkst und verbindest immer alle, auch in Abisko war das so. Dieses Grundprinzip von Austausch hast du mir mitgegeben und ich hoffe, ich kann irgendwann mal mit dir für Forschungen in den Himalaja.

Shaktiman Singh: Letztlich habe ich selbst das alles durch mein DAAD-Stipendium in Dresden gelernt. Ich kam dort an mit der verbreiteten Vorstellung, die Deutschen hätten eine harte Schale und seien verschlossen. Aus Indien kommend, wo sich alle dauernd umarmen, wurde ich gebrieft: Deutsche mögen ihre Privatsphäre. Das habe ich mir zu Herzen genommen und zu meiner Wirtin zunächst respektvolle Distanz gehalten. Am Ende sind wir zusammen wandern gegangen und haben Alltag und Wissen miteinander geteilt. Von Verschlossenheit konnte keine Rede sein. —

Dr. Shaktiman Singh ist Glaziologe und Dozent an der University of Aberdeen in Schottland. Er promovierte in Indien an der Sharda University zu glaziohydrologischen Prozessen und forschte dazu auch mit einem DAAD-Stipendium zwischen 2016 und 2017 an der TU Dresden. Mehr über Dr. Singhs Arbeit erfahren Sie auf der Website des Alumniportals Deutschland: bit.ly/kuenstliche-gletscher

Martha Schuchardt absolvierte während ihres Bachelorstudiums in Geografie an der Humboldt-Universität zu Berlin ein dreimonatiges, DAAD-gefördertes Forschungspraktikum an der Luleå University of Technology in Schweden bei Shaktiman Singh, als dieser dort als Postdoktorand forschte und lehrte.