Zum Nachdenken

Vollständige Neuorientierung

Wie Wassernutzung, Mobilität und Energieerzeugung die Umwelt stärken statt schädigen könnten – und warum dazu eine kulturelle Revolution nötig wäre.

Ausgabe 2 | 2022

Ein Gastbeitrag von Mojib Latif

Der Mensch muss sich selbst – seine Werte und Ziele – ebenso erforschen wie die Welt, die er zu verändern versucht“, schrieb der Club of Rome in „Die Grenzen des Wachstums“. Mit dem 1972 veröffentlichten Bericht wollten die Gründer des Clubs die Menschen wachrütteln, die Narrative, an die sie glaubten und denen sie folgten, zu hinterfragen. Wir haben jedoch bis heute die Augen davor verschlossen, dass wir durch die Art und Weise, wie wir auf der Erde leben, Gefahr laufen, die Lebensbedingungen auf unserem Planeten dramatisch zu verschlechtern. „Nichts zu tun, erhöht das Risiko eines Kollapses […]. Wenn die Weltgesellschaft wartet, bis die Belastungen und Zwänge offen zutage treten, hat sie zu lange gewartet“, hieß es in dem vor 50 Jahren veröffentlichten Bericht. An diesem Punkt sind wir inzwischen angelangt.

Viel Wissen über die Herausforderungen ist seither weltweit aufgebaut und Problemlösungen sind entwickelt worden. Doch wir müssen uns eingestehen, von einem Wandel, wie er so dringend notwendig wäre, weit entfernt zu sein. Was vor 50 Jahren noch abstrakt und in weiter Ferne erschien, gestaltet heute bereits die Lebenswirklichkeit: Artensterben und Klimaerwärmung sind nur zwei Symptome der insgesamt überschrittenen sogenannten planetaren Grenzen. Die Konzepte, denen zumindest die Industrienationen immer noch folgen, führen dazu, dass Blick und Fokus auf ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts gerichtet sind. Zu oft geben wir uns Scheinwerten hin und erkennen nicht die wahren Werte wie Nächstenliebe oder Frieden.

Wir verkennen insbesondere, welchen Wert eine intakte Umwelt und die Stabilität der Ökosysteme für die Zivilisation haben. Doch statt diese Systeme zu erhalten, haben wir mit unserem Tun dafür gesorgt, dass die Bio-Kapazität des Planeten Erde, seine Fähigkeit, Leben zu ermöglichen, abgenommen hat. Nachhaltigkeit sollte deshalb weitergedacht werden: Es geht nicht mehr darum, das Bestehende zu erhalten, sondern die Bio-Kapazität wieder zu erhöhen.

Deshalb setzt sich die Deutsche Gesellschaft Club of Rome für eine lebensfördernde Zukunft ein, für eine vollständige Neuorientierung unseres Denkens und Handelns hin zu einer aufbauenden, regenerativen Ökonomie und hin zu einem Gesellschaftssystem, in dem die Stärkung unserer Ökosysteme, der Gesellschaft und des Menschen die Kriterien sind, an denen wir uns orientieren. Es geht um nicht weniger als Werte wie Empathie, Demut, Respekt, Wertschätzung für das Lebendige und das, was Lebendigkeit erzeugt.

„Wir sollten endlich unsere Ziele und Wertvorstellungen hinterfragen und neu definieren. Denn die Menschen müssen diese Veränderungen auch wirklich wollen.“

Gute Ansätze existieren. Nehmen wir die Stadt Rotterdam. Sie hat jüngst eine naturinklusive Planung zum Leitmotiv für ihre Entwicklung gemacht. Mit sieben Großprojekten sollen Flächen geschaffen werden, die Tieren Schutz-, Nist- und Bewegungsmöglichkeiten bieten. Diese Flächen sind natürlich auch Orte der Begegnung für die Menschen. Lebensfördernde, also dem Leben und der Lebendigkeit verpflichtete Städte sind somit nicht nur grüner und ruhiger, die Luft ist auch sauberer und an heißen Tagen heizen sie sich nicht so stark auf. Wir müssen das Leitbild der menschengerechten Stadt entwickeln. Das Leitbild der autogerechten Stadt war ein fataler Irrtum.

Technologische Innovationen in allen Bereichen sind für eine lebensfördernde Zukunft unabdingbar. Jeder Abfall, seien es Treibhausgase wie CO2, Plastikmüll oder Elektroschott, zeugt von Verschwendung. Wir müssen unsere Wirtschaft in eine Kreislaufwirtschaft transformieren. Wie können wir unsere Wassernutzung, Mobilität, Energieerzeugung, den Ressourcenverbrauch oder die Ernährung nicht nur weniger schädlich, sondern regenerativ und idealerweise lebensfördernd, also die Umwelt stärkend, umgestalten? Nicht zu vergessen die notwendigen gesellschaftlichen Innovationen, unter anderem im Bereich der Bildung, Gesundheitsvorsorge und Pflege oder der Integration und Beteiligung – sprich: Chancengerechtigkeit.

Wir sollten den in „Die Grenzen des Wachstums“ gegebenen Rat annehmen und endlich unsere Ziele und Wertvorstellungen hinterfragen und neu definieren. Denn die Menschen müssen diese Veränderungen auch wirklich wollen. Dafür brauchen wir nicht nur Innovationen im „Außen“, sondern auch im „Innen“. Oder wie Club-of-Rome-Mitgründer Aurelio Peccei 1979 in „No limits to learning“ schrieb: „Die Lösungen sind einzig in uns selbst zu suchen.“ Peccei bezeichnete diese Suche als nichts weniger als eine kulturelle Revolution oder als Abenteuer des Geistes. Ist dies nicht notwendiger denn je, vor dem Hintergrund der fortschreitenden Umweltzerstörung, mehr Hunger und Migration, der größer werdenden sozialen Ungleichheit oder der zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen wie dem russischen Überfall auf die Ukraine? —

Prof. Dr. Mojib Latif leitet die Forschungseinheit Maritime Meteorologie am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel. Seit 2017 ist der bekannte Klimaforscher Präsident der Deutschen Gesellschaft Club of Rome. Der ehemalige DAAD-Geförderte verantwortete von 1995 bis 1999 den projektbezogenen Personenaustausch zwischen dem Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg und der Universität Oxford.

DIE ILLUSTRATION
Die beste aller Welten: Die Energie stammt aus erneuerbaren Energien, die Mobilität ist grün und effizient. Menschen leben in begrünten Häusern, die gleichzeitig Räume für Biodiversität bieten, im Einklang mit der Natur. Vertikale Gärten und Microfarming unterstützen die Nahrungsmittelproduktion und halten die Lieferketten in den lokalen Handel kurz. Die Pflanzen sorgen zudem für gute Luft und eine natürliche Kühlung der Häuser. Schwimmende Halbkugeln nach dem Vorbild von Rotterdam erweitern den Wohnraum auf das Wasser – ein Szenario für den Fall, dass der Meeresspiegel infolge des Klimawandels weiter ansteigt. Die Menschen leben inklusiv miteinander, alle können teilhaben.

Illustrator Florian Bayer ist bekannt für seine Arbeiten im Bereich Editorial- und Buchillustration und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Er unterrichtet an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg.