Interview: Sarah Kanning
„Wir dürfen nicht naiv sein“
Dr. Jan Marco Müller koordiniert Science Diplomacy und multilaterale Beziehungen bei der Europäischen Kommission. Im Interview verrät er, warum eine gemeinsame Strategie für die EU so wichtig wäre – und warum Wissenschaft und Technologie heute längst wieder Figuren auf dem geopolitischen Schachbrett sind.
Herr Müller, Sie koordinieren die Bemühungen der Europäischen Union um einen gemeinsamen Ansatz zur Science Diplomacy. Wissenschaftsdiplomatie wird manchmal als „soft power“ beschrieben – warum ist das Thema für die EU so wichtig?
Jan Marco Müller: Science Diplomacy ist in den vergangenen fünfzehn Jahren sehr populär geworden. Mehr und mehr Mitgliedsstaaten der EU haben eigene Science-Diplomacy-Strategien beschlossen, haben wissenschaftliche Kapazitäten in ihren Außenministerien ausgebaut und es hat sich eine ganze Forschungscommunity zu dem Thema entwickelt. Trotz dieser Bemühungen sehen wir aber, dass unsere Wettbewerber, seien es China, die USA oder andere, Science Diplomacy wesentlich strategischer nutzen. Aufbauend auf dem Globalen Ansatz für Forschung und Innovation, Europas Strategie für internationale Zusammenarbeit in einer sich verändernden Welt, haben wir unter der Federführung der Generaldirektion für Forschung und Innovation der EU-Kommission einen partizipativen Prozess angestoßen, um einen gemeinsamen europäischen Rahmen zu entwickeln. Dieser zielt darauf ab, Science Diplomacy in der EU besser zu koordinieren, Synergien zu identifizieren und einen EU-weiten Ansatz zu entwerfen.
Was macht die Science Diplomacy gerade so populär?
Die globalen Probleme und Herausforderungen werden immer komplexer. Es wird immer schwieriger, sie zu verstehen – weshalb es wissenschaftlicher Expertise bedarf. Die „global commons“, also die globalen öffentlichen Güter wie beispielsweise die Arktis, die Ozeane, der Erdorbit und der Mond, sind Räume, die in der Vergangenheit de facto von der Wissenschaft gemanagt wurden. Sie werden jetzt zunehmend politisiert, militarisiert, kommerzialisiert – die Hälfte der aktiven Satelliten im Orbit gehört beispielsweise Elon Musk. Das sind Themen, mit denen sich Politik und Diplomatie auseinandersetzen müssen, den Sachverstand dazu hat aber die Wissenschaft. Hinzu kommen Technologien, die sich immer schneller entwickeln, und Veränderungen in der Gesellschaft – denken Sie an Donald Trump und den Kapitolsturm, oder den Brexit. Die Wissenschaft gerät hier zunehmend zwischen die Fronten und wird von einigen als Teil der Eliten gesehen, die es zu überwinden gilt, während andere, wie „Fridays for Future“, für wissenschaftliche Fakten auf die Straße gehen.
Der russische Angriff auf die Ukraine hat vielen gezeigt, dass es bei Science Diplomacy nicht nur um das Wahre, Schöne, Gute geht, das Brückenbauen und Türenoffenhalten, sondern dass Science Diplomacy auch restriktive Maßnahmen, etwa gegen Russland, oder gegen die Einflussnahme aus dem Ausland bedeuten kann. Das sind zwei Seiten der gleichen Medaille.
Welches Selbstverständnis hat die Wissenschaft aktuell?
Auch die Wissenschaft selbst wandelt sich natürlich, sie tritt über „open access“, „citizen science“ und wissenschaftliche Politikberatung zunehmend in einen Dialog mit der Gesellschaft und der Politik und wird dabei selbst zu einem diplomatischen Akteur. Wir haben seit 2018 den Internationalen Wissenschaftsrat (International Science Council) als globale Stimmer der Wissenschaft und Organisationen wie das Europäische Kernforschungszentrum CERN haben inzwischen einen offiziellen Beobachterstatus in der Vollversammlung der Vereinten Nationen.
Wir dürfen aber nicht naiv sein. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Wissenschaft und Technologie heute wieder Figuren auf dem geopolitischen Schachbrett sind. Das mag man gut oder schlecht finden, aber es ist Realpolitik und da muss sich die Wissenschaft positionieren und in einen Dialog treten mit der Diplomatie.
Dass sie das diplomatische Parkett bereits zunehmend betritt, hat man auch beim Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine gesehen: Es gibt ja nicht nur Sanktionen und restriktive Maßnahmen, die von der EU verhängt wurden, sondern viele Universitäten haben Kooperationen mit Hochschulen in Russland eigenmächtig beendet. Das ist ein diplomatisches Instrument, das man in der Wissenschaft nutzt. Der DAAD ist in diesen Debatten auch sehr prominent vertreten.
Wie versuchen Sie, eine gemeinsame Science Diplomacy der EU zu erarbeiten?
Mit hoher Frustrationsbereitschaft. (lacht) Nein, im Ernst, es ist nicht einfach, die Welten von Wissenschaft und Diplomatie zusammenzubringen, auch wenn großer Enthusiasmus auf beiden Seiten herrscht. Schon rein juristisch und institutionell bestehen viele Herausforderungen: Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU betrifft die 27 Mitgliedstaaten, während der Europäische Forschungsraum von Island bis Israel reicht. Wir haben daher auch nicht den Anspruch, die eine große Science-Diplomacy-Strategie der EU zu entwickeln, sondern es geht um den Prozess an sich, darum, Forschende und Diplomatinnen und Diplomaten dazu zu bringen, sich miteinander zu unterhalten und sich gegenseitig zu verstehen. Wir haben im Herbst 2022 gemeinsam mit den Stakeholder Communities, wie beispielsweise der EU Science Diplomacy Alliance, angefangen, die Elemente einer gemeinsamen europäischen Science Diplomacy zu erarbeiten.
Sie haben dabei „vier Säulen“ erarbeitet, die Sie genauer in den Blick nehmen wollen. Wie teilen diese sich auf?
Die erste wäre Wissenschaftsdiplomatie und Geopolitik – hier geht es um Krieg und Frieden, aber auch um den Druck auf die Global Commons und die Zukunft des Multilateralismus. Die zweite Säule wäre wissenschaftliche Politikberatung, wie also die wissenschaftliche Evidenz ihren Weg in die Außenpolitik findet und wie es beispielsweise gelingen kann, Diplomatinnen und Diplomaten besser auf das vorzubereiten, was kommt, etwa auf das, was beispielsweise gerade in Laboren entwickelt wird oder an Technologie mit geopolitischen Implikationen entsteht. Man spricht hier immer nur von Künstlicher Intelligenz, aber es geht beispielsweise auch um mRNA-Impfstoffe und ihre geopolitische Bedeutung, oder um Geneditierung und dessen Auswirkungen auf den globalen Handel.
Der dritte Komplex betrifft die Rolle von Wissenschaft in Botschaften, also die Rolle der Wissenschaftsattachés beispielsweise, oder wie man Alumninetzwerke in anderen Ländern oder die Zusammenarbeit mit Forschenden in der Diaspora stärken könnte. Der vierte große Komplex ist Training und Capacity Building, nicht nur von denjenigen, die in der Wissenschaft oder der Diplomatie arbeiten, sondern auch denjenigen, die eine Übersetzungsfunktion zwischen beiden Welten wahrnehmen. Hier sehe ich viele Berufschancen!
Wie geht es jetzt weiter?
Wir sind dabei, Arbeitsgruppen für jede dieser Fragen einzurichten und wollen das Thema im Dezember auf der ersten Europäischen Wissenschaftsdiplomatie-Konferenz in Madrid auf hochrangiger Ebene anreißen und in die Öffentlichkeit tragen. Bei einem Treffen der EU-Forschungsminister im Juli 2023 stand Science Diplomacy zum ersten Mal auf der politischen Agenda. Und alle 27 Mitgliedsstaaten waren sich einig, dass es höchste Zeit ist, das Thema gemeinsam anzugehen.