Interview: Jessica Krauß
Auf den Spuren der Kunst
Die Kunsthistorikerin und DAAD-Alumna Professorin Bénédicte Savoy über geraubte Kunst in europäischen Museen – und weshalb Kunstgeschichte für sie auch eine Zukunftswissenschaft ist.
Frau Professorin Savoy, Sie sind Kunsthistorikerin und Expertin für die Rückgabe von geraubter Kunst aus kolonialen Kontexten. Was hat Sie dazu gebracht, sich mit diesem Thema zu beschäftigen?
Savoy: Ich bin in Paris geboren und in Frankreich und Italien aufgewachsen. Ein DAAD-Stipendium führte mich 1993 nach Berlin. Erst dort erfuhr ich, dass die berühmte Quadriga auf dem Brandenburger Tor im Jahr 1806 von Napoleon nach Paris verschleppt und 1814 zurückgegeben worden war. Ich forschte dazu und stieß auf bislang nicht veröffentlichte Quellen. Ein Glücksfall für eine Wissenschaftlerin! Daraufhin wollte ich mich intensiver mit dem Thema Kunstraub beschäftigen. So kam ich von der Germanistik zur Kunstgeschichte. Ich blieb in Berlin, seither arbeite und forsche ich hier, und seit 2003 bin ich Professorin für Kunstgeschichte an der Technischen Universität Berlin.
Ihre Forschung konzentriert sich auf die Aneignung von Kunst während Kriegen und in kolonialen Zeiten. Was treibt Sie bei dieser Arbeit an?
Savoy: Die Geschichte der gewaltsamen Verlagerung von Kulturgütern ist eng mit der europäischen Vergangenheit verbunden. Die großen Museen in Berlin, Paris oder London erzählen nur selten, wie sie ihre Schätze zusammengetragen haben. Dieses Schweigen über die Herkunft der Objekte finde ich problematisch. Heutzutage ist es zum Glück zu einem kollektiven Bedürfnis geworden, Transparenz über den Ursprung dieser Sammlungen zu schaffen. Die Menschen möchten wissen, woher die Kunstwerke kommen, die sie in den Museen bewundern. Besonders in einer globalisierten Welt, in der viele Menschen aus eben jenen Regionen kommen, aus denen auch diese geraubten Objekte stammen, ist es wichtig, die Herkunftsgeschichte zu erzählen. Es geht nicht nur um Ästhetik, sondern auch um Bewusstsein und Transparenz.
Woher kommt dieses gestiegene Bewusstsein für diese Themen?
Savoy: Vor allem in den vergangenen zehn Jahren hat sich viel getan. Provenienzforschung, also die Frage nach der Herkunft von Kunstwerken, ist inzwischen ein wichtiges Thema in der Öffentlichkeit und in den Medien geworden. Beispielsweise steht das 2020 eröffnete Humboldt Forum in Berlin, das ethnologische Sammlungen beherbergt, unter dem Druck der Öffentlichkeit, Verantwortung für die Geschichte der ausgestellten Objekte zu übernehmen. Wir erleben bei diesem Thema gerade einen Paradigmenwechsel. Die Museen können sich dieser Verantwortung nicht länger entziehen und das ist eine wichtige Entwicklung in die richtige Richtung.
Wie können Museen und Kunstinteressierte Verantwortungsbewusstsein zeigen?
Savoy: Aus meiner Perspektive als Wissenschaftlerin ist das Wichtigste, dass wir weiterhin offen über diese Themen sprechen. Wenn wir zum Beispiel die Büste der Nofretete in Berlin bewundern, müssen wir auch wissen, wie sie aus Amarna in Ägypten nach Berlin gekommen ist. Man darf Freude an solchen Kunstwerken haben, aber Freude ohne Bewusstsein für die historischen Bedingungen ist nur die halbe Freude.
„Kunstgeschichte ist auch eine Zukunftswissenschaft – die Arbeit, die wir heute leisten, wird das Morgen gestalten.“
Was motiviert Sie in Ihrer Arbeit, wenn Sie an die Zukunft denken?
Savoy: Für mich ist Kunstgeschichte nicht nur eine historische Wissenschaft, sondern auch eine Zukunftswissenschaft. Die Arbeit, die wir heute leisten, wird das Morgen gestalten. Die Frage, wie wir mit dem Erbe umgehen, das uns hinterlassen wurde – seien es koloniale Objekte oder Kunstwerke, die während des Nationalsozialismus geraubt wurden –, ist entscheidend. Wir müssen sicherstellen, dass die Geopolitik des Kulturerbes in Zukunft gerechter und ausgewogener wird. Diese Verhandlungen finden gerade statt.
An welchen Projekten arbeiten Sie in nächster Zeit?
Savoy: Ich leite ein Team von etwa 30 internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus verschiedenen Teilen der Welt. Unser aktuelles Projekt ist ein „Atlas der Abwesenheit“, der sich mit dem Kulturerbe Kameruns beschäftigt. 2024 haben wir das gleichnamige Buch publiziert, in dem wir unsere ersten Ergebnisse zusammengetragen haben, und das kostenfrei zugänglich ist. Es gibt in Deutschland etwa 40.000 Objekte aus Kamerun in öffentlichen Sammlungen, während das Land selbst kaum über sein kulturelles Erbe verfügt. Wir wollen dieses Ungleichgewicht sichtbar machen und hoffen, dass diese Erkenntnis sowohl in Deutschland als auch in Kamerun eine breitere Aufmerksamkeit erfährt.
Ein weiteres Thema, das uns seit vielen Jahren beschäftigt, ist der Kunstraub während des Nationalsozialismus und die damit verbundenen Traumata. Viele Museen in Deutschland profitieren noch heute von den Kunstwerken, die verfolgten und getöteten jüdischen Familien während dieser Zeit geraubt wurden.
Was kann internationaler akademischer Austausch dabei leisten?
Savoy: Heute sehen wir, dass Europa in sich selbst schrumpft und die Angst vor dem anderen wächst. Dadurch wird unsere Fähigkeit, andere Perspektiven, Sprachen und Prioritäten zu verstehen, immer kleiner. Institutionen wie der DAAD sind in der heutigen Zeit wichtiger denn je, um den Austausch zu fördern und intellektuelle Brücken zu bauen. Nur durch ernsthafte Zusammenarbeit und Austausch können wir verhindern, dass sich Europa weiter abschottet. —
Prof. Dr. Bénédicte Savoy beschäftigt sich mit der Rückgabe von Kunstwerken aus kolonialen Kontexten. Als Erasmus-Studentin kommt sie 1993 von Paris nach Berlin, erhält 1994 ein DAAD-Stipendium und entscheidet sich dazu, in der deutschen Hauptstadt zu bleiben. Seit 2003 forscht und lehrt die französische Kunsthistorikerin und Expertin für Provenienzforschung an der Technischen Universität Berlin und leitet das Fachgebiet Kunstgeschichte der Moderne. Ein von ihr gemeinsam mit dem senegalesischen Wissenschaftler Felwine Sarr für Frankreichs Präsident Emmanuel Macron verfasster Bericht, der die Rückgabe von afrikanischen Kunstwerken aus französischen Museen empfahl, löste eine europaweite Debatte über die Restitution kolonialer Kunstwerke aus. Savoy setzt sich für die Dekolonisierung von Museen und einen ethischen Umgang mit geraubten Kulturgütern ein.
Mehr über ihre spannende Forschung erzählt Professorin Bénédicte Savoy im Video.