Im Dialog

„Wir müssen die Genderbrille aufsetzen“

Wieso geschlechterspezifische Forschung selbstverständlich werden sollte: Professorin Carmen Birkle und Doktorandin Helena Hanneder vom Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung im Gespräch.

Ausgabe 2024 | 2025

Protokoll: Luca Rhese-Knauf

Carmen Birkle: Wenn ich auf meine eigene Geschichte zurückschaue, sieht man, wie sich die feministische Forschung in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Ich habe an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz promoviert und habilitiert und dort im Arbeitskreis „Frauenforschung“ gearbeitet. Er wurde 1990 gegründet und das war schon eine Neuheit zu der damaligen Zeit. Man sieht eine Verschiebung in der Forschung schon daran, dass wir uns später umbenannt haben in „Arbeitskreis Frauen- und Genderforschung“.

Helena Hanneder: Das binäre Denken wird ­langsam aufgeweicht. Worum ging es damals inhaltlich?

Carmen Birkle: In erster Linie um die Sichtbarkeit von Frauen. Man ging außerdem davon aus, dass am Ende alle irgendwie gleich sind. Heute spricht man kaum noch von Gleichheit, weil man sagt: Das gibt es gar nicht. Man spricht vielmehr von Differenz und Intersektionalität. Und mit der Einführung des Genderbegriffs haben sich so wichtige Felder wie die „Masculinity Studies“ entwickelt.

„Sprache kann ­Gesellschaft verändern, aber Sprache ist auch Ausdruck von Gesellschaft. Sie spielt eine große Rolle in der feministischen Forschung.“

Prof. Dr. Carmen Birkle

Helena Hanneder: Die Entwicklung zeigt sich auch im Studium. Einer meiner ersten Berührungspunkte mit feministischer Forschung war ein Seminar zur „Global LGBT Fiction“. Es begann also nicht mit den Klassikern feministischer Literatur, sondern mit zeitgenössischen Romanen zu Transidentitäten, schwulen Männern, lesbischen Frauen oder der AIDS/HIV-Krise. Die feministische Forschung ist außerdem viel interdisziplinärer geworden. Ich promoviere im Fach Linguistik und kann sprachwissenschaftliche Methoden sehr gut in der Genderforschung nutzen. Wir können uns Textkorpora anschauen, also große Textsammlungen, und untersuchen, wie sich die Verwendung bestimmter Wörter wie zum Beispiel „dyke“ – ein abwertender Ausdruck für „Lesbe“ im Englischen – über die Zeit verändert hat.

Carmen Birkle: Sprache kann Gesellschaft verändern, aber Sprache ist auch Ausdruck von Gesellschaft. Sie spielt eine große Rolle in der feministischen Forschung.

Helena Hanneder: Und auch andersherum spielen Gender- und feministische Forschung für andere Disziplinen eine wichtige Rolle. Man kann den genderspezifischen Blick auf alle Bereiche werfen, zum Beispiel auf die Medizin und Frauengesundheit. Hier gibt es noch viel zu wenig Forschung. Das schätze ich so am Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung. Wir schauen in viele verschiedene Fächer hinein. Dadurch hat es einen großen Wirkbereich in verschiedene Institutionen hinein, bringt Forscherinnen und Forscher unterschiedlicher Fachrichtungen zusammen und erzeugt Synergieeffekte.

Carmen Birkle: Und der in die Zukunft gerichtete Blick ist hier sehr wichtig. Früher drehte sich der Diskurs um Männer und Frauen, welche Rolle sie haben, und wie wir mehr Gleichberechtigung erreichen. Heute spielen Fragen von Diversität eine große Rolle. Das ist die Zukunft. Es geht etwa um die Gruppen der „LGBTQIA+” – und weitere Ergänzungen. Das ist auch politisch sehr brisant.

Helena Hanneder: Diversität ist im gesellschaftlichen Diskurs, in der Popkultur und auch in Institutionen schon angekommen. Aber auf strukturelle gesellschaftliche Veränderungen warten wir teilweise immer noch. Was die Forschung betrifft, können wir ruhig öfter die Genderbrille aufsetzen. Das machen wir am Zentrum und deshalb ist es so wichtig. Es passiert zwar viel, aber es wäre schön, wenn noch mehr passieren würde. Aber dafür bräuchte es mehr Personal, mehr Mittel und mehr Stellen.

Carmen Birkle: Ja, das bräuchte es. Denn unser Ziel ist es, dass geschlechtsspezifische Forschung selbstverständlich wird. Über Jahre hinweg wurde immer gesagt: Frauen in der Forschung – das kommt automatisch. Aber nichts kommt wirklich automatisch, und feministische Studien sind nach wie vor wichtig. In den 1990er-Jahren und Anfang der 2000er-Jahre hieß es, dass in Deutschland und in westlichen Nationen alles erreicht sei. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. Gleichstellung auf allen Ebenen zu erreichen, bleibt zentral. Ich würde hier noch den Begriff des Postfeminismus einbringen, der viel kursiert, aber sehr unterschiedlich definiert wird. „Post“ kann heißen nach dem Feminismus. Und es kann eine Fortführung feministischer Ideen bedeuten. Ich denke, es wäre falsch zu sagen, „Post“ heißt „nach dem Feminismus“. Denn den Feminismus gibt es nach wie vor. Und er ist nach wie vor notwendig. —

Carmen Birkle ist Professorin für Nordamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft mit Schwerpunkt Amerikanistik, Gender und Ethnic Studies und Direktorin des Zentrums für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung (ZGS). Sie ist DAAD-Alumna und wurde 1983/1984 während eines Frankreich-Aufenthalts gefördert. Helena Hanneder, Referentin am ZGS, promoviert in English Linguistics an der Philipps-Universität Marburg.

Das Zentrum für Gender Studies und feministische ­Zukunftsforschung der Philipps-Universität Marburg widmet sich der Forschung, Lehre und Verbreitung feministischer Wissenschaften und Gender Studies mit Fokus auf Zukunftsforschung.